Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
ich vorzeigen oder womit ich prahlen könnte. Julie! Ich gebe nicht auf, auch wenn ich zu extremen Mitteln greifen muß! Ich habe jede Stunde vom Tag damit verbracht, eine Lösung zu finden. Es geht hier nur um Geld, das ich nicht habe. Um Dinge, die ich mir nicht leisten kann, Pläne, die ich nicht in die Tat umsetzen kann. Schulden, die ich nicht bezahlen kann. Es geht hier nur um Angst und Scham, um die Furcht, jedesmal, wenn es an der Tür klingelt, die langen Stunden, ehe der Schlaf kommt, die einzige Linderung, die ich überhaupt spüre. Wenn ich nicht vom Untergang träume. Das Leben kann so nicht weitergehen, es zehrt zu sehr an meinen Kräften. Immer diese Angst, dieses hämmernde Herz. Mein eigenes jämmerliches Gesicht im Spiegel, die Gewißheit, daß ich alles ruiniert habe. Nur aufgrund einer Schwäche. Einer Schwäche für Spiel, Risiken und Glück.
Ich bitte Dich nicht um Verzeihung, sondern nur um ein wenig Verständnis. Jetzt bin ich auf dem Weg zu etwas anderem. Das Spiel schenkt mir keine Freude mehr, ich glaube, ich könnte jetzt an einem Automaten vorübergehen und das Geld dabei in der Tasche lassen. Aber da ist etwas mit diesem funkelnden Licht, es kommt mir vor wie ein Rausch. Vor der Maschine bleibt die Zeit stehen, und ich bin quicklebendig. Ich nehme die Maschine in Besitz, lenke sie, fordere sie heraus, sie begrüßt mich überschwenglich mit Licht und Musik, sie zieht an mir, lockt mich. Und ich gebe mich hin, lasse mich treiben, träume. Du hältst mich vielleicht für schwach, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn Du wüßtest, wie verzweifelt ich bin, wie weit ich gehen würde, wenn wir nur wieder Kontakt zueinander haben könnten. Ich habe doch nur Dich. Ich habe das Gefühl, daß ich an den Abgrund getrieben worden bin, und ich weiß nicht, wo es enden wird. Ich bin freundlos, arbeitslos und kinderlos. Nein, nicht kinderlos, ich halte noch immer an Dir fest, auch wenn Du das nicht brauchst, nicht willst. Vielleicht hast Du mich ab und zu gesehen, ich sitze vor der Schule im Honda, versteckt zwischen den Autos auf dem Parkplatz. Ich sehe, wie Du mit Deinen Freunden aus dem Schulgebäude kommst, wie Du scherzt und lachst und wie froh Du aussiehst. Ich sehe Deine prachtvollen roten Haare, die Dein Gesicht wie eine Wolke umrahmen. Komme ich in Deinem Leben denn überhaupt nicht vor? Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann, wenn Du mich endgültig fallen läßt. Wenn ich allein, ohne irgendeine Bindung alt werden muß. Von allen Unglücken, die einen Menschen treffen können, ist Einsamkeit das schlimmste. Daß man in dieser elenden Welt nicht einmal jemandem hat, mit dem man zusammen lachen kann. Du bist das einzige in meinem Leben, worauf ich stolz bin. Aber Du siehst dünn aus, Julie, ißt Du genug? Du mußt Dich wärmer anziehen, jetzt ist doch Winter. Das würde Mama auch sagen, wenn sie Dich mit nacktem Hals sähe. Und auf sie hast Du doch immer gehört. Kannst Du Dich an diese glückliche Zeit erinnern? Als ich noch die Arbeit im Autohaus hatte. Ich war ein guter Verkäufer, vertrauenerweckend und tüchtig, und ich kann mich so gut daran erinnern, wie schön es war, nach jedem Verkauf mit der großen Glocke läuten zu können. Das Gefühl, Erfolg zu haben, ein Teil der Welt zu sein. Abends zu Dir und Mama nach Hause zu kommen, in die Wärme und das Licht. Aber Licht gibt es nicht mehr, mein Leben verschwindet. Während ich das hier schreibe, bist Du mir so nah. Ich habe das Gefühl, Deine Hand zu halten, ich bringe es nicht über mich, loszulassen. Hör auf mich! Denk an mich, laß mich spüren, daß ich in Deinem Leben vorhanden bin. Gefällt Dir Dein neues Zimmer, geht es gut in der Schule? Ich träume davon, Dich zu beeindrucken, Dir das zu geben, was Du Dir am meisten wünschst. Ich glaube nicht an Wunder, aber ich glaube, daß man sein eigenes Schicksal umkehren kann, das ist eine Frage von Phantasie und Willen. Von Durchhaltevermögen und Mut. Ich glaube auch, daß es seinen Preis kostet. Und jetzt würde ich jeden Preis bezahlen, ich habe nichts zu verlieren. Vor mir liegen schwarze Tage voller Angst.
EIN MANN GEHT zu Fuß durch die Dunkelheit.
Für einige Sekunden ist er im Licht der Straßenlaternen zu sehen, wird von der Dunkelheit verschluckt und taucht dann wieder auf, als existiere er nur für kurze Augenblicke. So kommt es ihm vor, so ist sein Leben geworden. Er lebt auf und fängt an zu glühen, um dann wieder zu verlöschen. Es kommt und geht wie ein
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