Der Morgen der Trunkenheit
Sitzung das Säckchen, bis am nächsten Tag das Ganze von neuem begann. Manchmal fragten sich die Kinder, was es wohl in Tantchens Kästchen gab? Welche Eßbarkeiten sich wohl darin verbargen? Aber da sie sich partout keinen Reim darauf machen konnten, ließen sie sie in Frieden und zogen ihrer Wege.
Nun trug Mama, während sie mit der einen Hand Tantchen am Ellenbogen untergefaßt hatte, in der anderen Hand dieses Kästchen. Sudabeh rutschte das Herz bis in die Kniekehle. Es schien, als enthielte dieses reichverzierte Kästchen aus Buchsbaumholz eine Anklageschrift, die sie schuldig spräche.
Tantchen setzte sich, und das Kästchen wurde vor ihr auf den Tisch gestellt. Mama rief nach Djamile, sie sollte Tantchen Tee bringen. Auf dem Tisch stand ein kleines Kristallglas mit Keksen. Tantchen wandte sich an ihre Schwägerin und fragte: »Ist mein Bruder nicht zu Hause?«
Welch sinnlose Frage. In der Garage am Ende des Hofs war der Platz des Wagens ihres Bruders neben Nahids Wagen frei.
»Er ist ausgefahren.«
»Wohin ist er gefahren?«
»Skifahren. Er hat Peyman und Sepideh zum Skifahren mitgenommen.«
Doch Sudabeh wußte genau, daß Papa ausgegangen war, damit er, falls Mutter und Tochter sich anschrien, nicht gezwungen wäre, einzuschreiten und ein Machtwort zu sprechen. Djamile brachte den Tee und verschwand. Mama folgte ihr und sagte, während sie die Zimmertür zuzog: »Reden Sie ihr gut zu. Um Himmels willen, reden Sie ihr bloß gut zu.«
Stille breitete sich im Raum aus. Sudabeh war es leid, daß Tantchen vorgab, von nichts zu wissen, und sagte zornig: »Nun, geben Sie mir doch einen guten Rat, Tantchen.«
Tantchen blieb stumm.
»Mama sagt, wenn Sie zustimmen, werden sie ebenfalls zustimmen, und wenn Sie es nicht tun, werden sie es ebenfalls nicht tun.«
Sie blickte Tantchen an. Sag ein Wort und erlöse mich. Ja oder nein? Aber Tantchen wirkte bekümmert. Sie blickte durch das Fenster nach draußen. Schließlich sagte sie, mit belegter Stimme und so, als ob sie zu sich spräche, sanft: »Endlich ist der Zeitpunkt gekommen.«
»Was?«
Tantchen drehte sich um und starrte sie an: »Wer bin ich denn, ja oder nein zu sagen, mein Töchterchen? Ich kann dir nur meine eigene Geschichte erzählen. Danach ist es an dir, zu entscheiden.«
Sudabeh erwiderte ungeduldig: »Tantchen, Sie haben mir schon Hunderte von Malen solche Geschichten erzählt. Sie haben mir die Geschichten Ihrer Streiche erzählt, als Sie noch ein Kind waren, aber ...«
»Nein, Djanam. Die wichtigste habe ich nicht erzählt. Die hab ich mir für heute aufgehoben. Wenn ich sie dir einmal ausführlich erzählt hätte, hätte ich mich nicht mehr beherrschen können. Ich hätte sie jedes Jahr hundert Mal wiederholt. Ja, so ist das nun mal mit dem Alter und der Einsamkeit! Dann hätte sie nicht mehr die Wirkung gehabt, die sie haben sollte ...« Tantchen verstummte wieder. Dann fragte sie unvermittelt: »Liebst du ihn sehr?«
»Ach, Tantchen, ja. Sehr, aber niemand versteht es ...«
Tantchens Augen glänzten. Einen Augenblick lang schien es, als hätten sich ihre Augen verjüngt. Jugendlich, groß, rehbraun und strahlend. War das tatsächlich Tantchens Blick oder hatte Sudabeh das eigene Abbild in ihren Augen gesehen? Nun verstand sie, warum es hieß, sie ähnele Tantchen.
»Ich verstehe es«, und wieder verstummte sie.
Sudabeh stieß einen Seufzer aus, der einem Atemzug ähnelte, oder war es ein Atemzug, der zu einem Seufzer wurde? Und Tantchen lächelte.
»Sudabeh, mein Liebling, paß auf. Paß sehr gut auf, daß du nicht endest wie ich. Allein, kinderlos. Daß du im Haus den oder jenen störst und zur Last fällst. Nein, ich beklage mich nicht. Deinem Vater gegenüber will ich nicht ungerecht sein. Er hat mich in sein Haus aufgenommen und hat sich um mein Hab und Gut gekümmert. Ich sage nicht, er hätte mich vernachlässigt. Er hat sich um mich bemüht. All meine Habe gehört euch, den Kindern meines Bruders und meiner Schwestern. Es sei euch gegönnt, ich habe ja keine Erben außer euch. Dennoch schäme ich mich. Ich weiß, daß ich deiner Mutter zur Last falle.«
»Aber Tantchen ...«
»Nein, mein Liebstes, hör mir zu. Auch deine Mutter ist lieb zu mir, sie ist wie eine Tochter. Aber schließlich wünscht sich jede Frau ein privates und unabhängiges Eheleben. Ohne Störenfried. Ich weiß, wovon ich spreche. Es ist sehr schwer, jemanden aus gewissen Rücksichten zu ertragen. Ach, mein Herzchen, so freundlich die Verwandten auch
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