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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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und er, Dolcino, sei von Gott gesandt, um die Weissagungen zu deuten und die Schriften des Alten und Neuen Testaments auszulegen. Die Kleriker aber, ob Weltpriester, Prediger oder auch Minoriten, nannte er Diener des Teufels und entband seine Anhänger von der Pflicht, ihnen zu gehorchen. Und er unterschied vier Zeitalter im Leben der Christenheit: erstens das des Alten Testaments, der Patriarchen und der Propheten vor der Ankunft Christi, in welchem die Ehe gut war, weil sich das Volk vermehren mußte; zweitens das Zeitalter Christi und der Apostel, die Zeit der Heiligkeit und der Keuschheit; dann das dritte Zeitalter, in welchem die Päpste zunächst die irdischen Reichtümer akzeptieren mußten, um das Volk regieren zu können, doch als die Menschen sich von der Gottesfurcht abzuwenden begannen, kam Benedikt von Nursia und predigte wider allen weltlichen Besitz. Und als dann auch die Mönche des heiligen Benedikt Reichtümer aufzuhäufen begannen, kamen die Brüder des heiligen Franziskus und des heiligen Dominikus und predigten noch rigoroser und strenger als Benedikt wider die irdische Herrschaft und den weltlichen Reichtum. Nun aber, seit die Lebensführung so vieler Prälaten erneut all diesen Ermahnungen Hohn spricht, sei man ans Ende des dritten Zeitalters gelangt und müsse sich zu den Lehren des Evangeliums und der Apostel bekehren.«
    »Aber dann hat Dolcino doch nur gepredigt, was auch die Franziskaner damals predigten und unter ihnen insbesondere die Spiritualen und Ihr selbst, ehrwürdiger Vater!«
    »Ja schon, aber er zog daraus eine infame Schlußfolgerung! Er verkündete nämlich, um dieses dritte Zeitalter der Korruption zu beenden, müßten sämtliche Kleriker eines grausamen Todes sterben. Er verkündete, alle Prälaten der Kirche, alle Geistlichen, alle Mönche und Nonnen, auch die Brüder und Schwestern der Bettelorden, die Minoriten, die Eremiten und sogar Papst Bonifaz müßten samt und sonders vernichtet werden, und zwar von einem Kaiser, den er selbst dazu auserwählt habe, und das sei Friedrich von Sizilien.«
    »Aber war es nicht gerade jener Friedrich, der den aus Umbrien vertriebenen Spiritualen auf seiner Insel Zuflucht gewährte? Und verlangen nicht auch die Minoriten, der Kaiser (mag es heute auch Ludwig der Bayer sein) solle die weltliche Macht des Papstes und der Kardinale zerschlagen?«
    »Eben dies ist das Schlimme am Ketzertum, daß es, wie jeder Wahn, die besten Gedanken verdreht und zu Konsequenzen führt, die den Gesetzen Gottes und der Menschen Hohn sprechen! Die Minoriten haben niemals vom Kaiser verlangt, er solle die anderen Geistlichen töten.«
    Hier irrte Ubertin, wie man heute weiß, denn als Ludwig der Bayer wenige Monate später seine Herrschaft in Rom errichtete, taten Marsilius und andere Minoriten mit den papsttreuen Geistlichen eben das, was Dolcino gefordert hatte. Womit ich beileibe nicht etwa sagen will, daß Dolcino im Recht gewesen wäre, allenfalls, daß Marsilius im Unrecht war . . . Gleichwohl begann ich mich nun zu fragen, besonders 142
    Der Name der Rose – Dritter Tag
    nach meinem Gespräch mit William an jenem Morgen, wie eigentlich die einfachen Leute im Gefolge Dolcinos korrekt unterscheiden sollten zwischen den Verheißungen der Spiritualen und ihrer Verwirklichung durch Dolcino. War es denn wirklich ein so großes Verbrechen, wenn er in handfeste Praxis umsetzte, was fromme Männer, die als rechtgläubig galten, in reinster Mystik gepredigt hatten? Oder lag vielleicht hierin genau der Unterschied, bestand vielleicht wahre Frömmigkeit in der reinen Hoffnung auf Gott, im geduldigen Warten, daß ER uns geben wird, was seine Propheten verheißen haben, ohne daß wir es mit irdischen Mitteln zu erreichen trachten? Heute weiß ich, daß es so ist und warum Dolcino irrte: Man darf die Ordnung der Dinge nicht ändern, auch wenn man glühend auf ihre Veränderung hoffen muß. An jenem Abend indessen fühlte ich mich zwischen widersprüchlichen Gedanken hin- und hergerissen.
    »Am Ende«, fuhr Ubertin fort, »erkennst du den Stempel der Häresie stets in der Hoffart. Im Jahre 1303
    sandte Dolcino ein zweites Rundschreiben aus, in welchem er sich zum Oberhaupt der ›Apostolischen Kongregation‹ erklärte und zu seinen Stellvertretern die perfide Margaretha (eine Frau!) ernannte sowie die Pseudo-Apostel Longinus von Bergamo, Fridericus von Novara, Albertus Carentinus und Valdericus von Brescia. Und er erging sich des langen und breiten über eine Abfolge

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