Kapitaen Bykow
Der Weg zur Amalthea
Prolog: Amalthea, J-Station
Die Amalthea ist der fünfte Mond des Jupiters und ihm am nächsten. Sie dreht sich in etwa fünfunddreißig Stunden einmal um ihre Achse und umkreist den Jupiter in zwölf Stunden. Deshalb erscheint der Jupiter alle dreizehneinhalb Stunden über dem nahen Horizont.
Der Aufgang des Jupiters ist sehr schön. Man muss nur vorher mit dem Lift zu der durchsichtigen Spektrolithkuppel im obersten Stockwerk hinauffahren.
Sobald sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erblickt man eine vereiste Ebene, die sich sanft gewölbt bis zu einem Felsenkamm am Horizont erstreckt. Der Himmel ist schwarz und mit zahlreichen klar strahlenden Sternen bedeckt. Der Glanz der Sterne wird von der Ebene verschwommen reflektiert, und der felsige Gebirgskamm zeichnet sich vor dem Sternenhimmel als tiefschwarze Silhouette ab. Wenn man genauer hinsieht, kann man sogar die Umrisse der einzelnen gezackten Gipfel erkennen.
Manchmal schweben die gefleckte Sichel des Ganymed oder die silberne Scheibe der Kallisto oder auch beide – was allerdings ziemlich selten vorkommt – dicht über diesem Felsenkamm. Dann fallen von den Bergen ebenmäßige graue Schatten weithin über das schimmernde Eis der Ebene. Erscheint aber am Horizont die Sonne, ein kleiner runder, blendend heller Lichttupfen, so färbt sich die Ebene zartblau, werden die Schatten schwarz und auf dem Eis alle Spalten und Risse deutlich sichtbar. Die kohlschwarzen Kleckse auf dem Raketenstartplatz erinnern dann an riesige, langgestreckte zugefrorene Pfützen, und dieser Anblick erweckt halbvergessene Assoziationen. Man möchte hinausstürmen und auf der dünnen Eisdecke herumlaufen, um zu hören, wie sie unter den Magnetschuhen knirscht, und zu sehen, wie sie sich – gleich der Haut auf warmer Milch, nur dunkler – kräuselt.
Aber all das kann man nicht nur auf der Amalthea sehen.
Wirklich schön wird es, wenn der Jupiter aufgeht. Dieser Anblick ist nur auf der Amalthea wirklich schön, besonders, wenn der aufgehende Jupiter die Sonne einholt. Zuerst lodert hinter den Gipfeln des Gebirgskamms eine grüne Morgenröte auf – die Exosphäre des Riesenplaneten. Sie erstrahlt immer heller, nähert sich langsam der Sonne und löscht nacheinander die Sterne am schwarzen Himmel aus. Und plötzlich schiebt sie sich vor die Sonne. Diesen Augenblick darf man auf keinen Fall versäumen. Der grüne Strahlenschein der Exosphäre wird augenblicklich, wie durch Zauberei, blutrot. Immer wartet man besonders auf diesen Augenblick, und jedes Mal tritt er überraschend ein. Die Sonne und die vereiste Ebene färben sich rot, und auf dem runden Türmchen des Peilgerätes am Rand der Ebene flammen rote Lichtreflexe auf. Sogar die Schatten der Gipfel sättigen sich mit zartem Rosa. Dann wird das Rot allmählich dunkler, färbt sich graubraun, und schließlich erhebt sich über dem felsigen Bergrücken am nahen Horizont der riesige braune Leib des Jupiters. Die Sonne ist noch zu sehen und immer noch rot wie glühendes Eisen, eine kreisrunde, kirschfarbene Scheibe auf graubraunem Grund.
Graubraun gilt wer weiß warum als unschöne Farbe. Zweifellos nur bei Menschen, die noch nie den halben Himmel haben graubraun erstrahlen und darauf die scharf konturierte rote Sonnenscheibe stehen sehen. Ist die rote Scheibe verschwunden, bleibt nur, riesig, graubraun und zottig, der Jupiter zurück. Er braucht geraume Zeit, um sich über den Horizont zu erheben, schwillt dabei gleichsam an und nimmt schließlich ein Viertel des Himmels ein. Ihn gürten schwarze und grüne Streifen von Ammoniakwolken, und von Zeit zu Zeit zeigen sich hier und da winzige weiße Punkte, die sogleich wieder verlöschen – so sieht man von der Amalthea aus die exosphärischen Protuberanzen.
Leider kann man sich den Aufgang dieses Planeten nur selten bis zur letzten Phase anschauen. Der Jupiter lässt sich dabei zu viel Zeit, und man muss arbeiten gehen. Wenn man mit der Beobachtung des Jupiteraufgangs beauftragt ist, kann man ihn natürlich bis zur letzten Phase verfolgen. Aber während einer Beobachtung bleibt einem keine Zeit, an die Schönheit zu denken.
Der Direktor der »J-Station« sah nach der Uhr. Der Jupiteraufgang war heute schön und würde gleich noch schöner werden. Aber es wurde Zeit, wieder mit dem Lift hinunterzufahren und sich darüber Gedanken zu machen, was zu tun war.
Im Schatten der Felsen begann sich langsam das Gittergerüst der Großen Antenne zu drehen.
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