Der Name der Rose
dich nicht straflos am Eigentum guter Christen vergreifen, die guten Christen werden dich sonst als Räuber bezeichnen. Wie sie es mit Gherardo taten. Von dem sie am Ende sogar behaupteten (und merke: ich weiß nicht, ob es zutraf, ich stütze mich hier auf die Worte des Fra Salimbene, der jene Leute persönlich gekannt hat), er habe, um seine Willenskraft und Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen, mit Frauen geschlafen, ohne ihnen körperlich beizuwohnen; doch als seine Jünger das auch versuchten, kamen ganz andere Resultate dabei heraus . . . Oh, was erzähle ich dir, ein Knabe wie du darf diese Dinge nicht wissen, das Weib ist ein Vehikel des Satans! . . . Gherardo rief unterdessen weiter sein ›Penitenziagite!‹, doch dann versuchte einer aus seinem Gefolge, ein gewisser Guido Putagio, sich an die Spitze seiner Gruppe zu setzen, und zog mit großem Pomp und zahlreichen Reitern durchs Land und verschleuderte hohe Summen und veranstaltete Bankette, wie es die Kardinale der Kirche in Rom zu tun pflegen. So kam es zwischen den beiden zum Streit um die Führung der Gruppe, und überaus häßliche Dinge geschahen. Dennoch erhielt Gherardo auch weiterhin großen Zulauf, nicht nur Bauern vom Lande, auch ehrbare Handwerker aus den Städten kamen zu ihm, und er hieß sie ihre Kleider ablegen, um nackt dem nackten Christus zu folgen, und sandte sie aus, seine Lehre zu predigen in der Welt.
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Der Name der Rose – Dritter Tag
Er selbst aber ließ sich aus festem Zwirn ein weißes Gewand ohne Ärmel nähen und glich darin mehr einem Narren denn einem Mönch! Sie lebten unter freiem Himmel, aber zuweilen stürmten sie Kirchenkanzeln, unterbrachen die Andacht der Gläubigen und verjagten die Priester. Einmal setzten sie sogar ein kleines Kind auf den Bischofsthron in der Kirche Sankt Ursus zu Ravenna . . . Und sie nannten sich Erben der Lehre Joachims von Fiore . . .«
»Aber das haben doch auch die Franziskaner getan, auch Gerhardus von Borgo San Donnino, auch Ihr selbst!« rief ich.
»Beruhige dich, mein Sohn! Joachim von Fiore war ein großer Prophet, er hat als erster vorausgesehen, daß Franziskus kommen würde, um die Kirche zu erneuern. Die PseudoApostel dagegen mißbrauchten Joachims Lehre zur Rechtfertigung ihres Wahns, Segarelli zog mit einer ›Apostolessa‹ herum, einer gewissen Tripia oder Ripia, die vorgab, sie besäße die Gabe der Prophetie. Eine Frau, verstehst du?«
»Aber ehrwürdiger Vater«, unterbrach ich von neuem, »Ihr selbst habt doch neulich von den frommen Visionen der Schwestern Clara von Montefalco und Angela von Foligno gesprochen . . .«
»Sie waren Heilige! Sie lebten in Demut und anerkannten die Macht der Kirche, und es lag ihnen gänzlich fern, sich die Gabe der Prophetie anzumaßen. Die Pseudo-Apostel dagegen behaupteten, ähnlich wie viele andere Ketzer, auch die Frauen könnten jederzeit predigen und als Predigerinnen durchs Land ziehen. Und dabei machten sie auch keinen Unterschied mehr zwischen Ledigen und Verheirateten, und kein Gelübde galt ihnen mehr als bindend . . . Kurzum (denn ich will dich nicht allzusehr mit dieser trüben Geschichte belasten, deren volle Bedeutung du noch nicht richtig erfassen kannst), es kam schließlich so weit, daß der Bischof Obizzo von Parma beschloß, Gherardo in Ketten legen zu lassen. Da aber geschah etwas Sonderbares, woran du sehen kannst, wie schwach die Natur des Menschen ist und wie tückisch das Giftkraut der Häresie. Denn es dauerte nicht lange, und der Bischof ließ Gherardo wieder frei, empfing ihn an seiner Tafel und lachte über seine groben Spaße und behielt ihn bei sich als seinen Hofnarren.«
»Und wie kam das?«
»Ich weiß es nicht . . . das heißt, ich fürchte, ich weiß es doch. Der Bischof war ein Mann des Adels, ihm mißfielen die Händler und Handwerker in der Stadt. Vielleicht war es ihm daher ganz recht, wenn Gherardo weiterhin mit seinen Armutspredigten gegen den Reichtum der Bürger wetterte und vom Betteln zum Raub überging . . . Erst als der Papst persönlich eingriff, besann sich der Bischof auf die gebotene Strenge, und Gherardo endete elendiglich als gottloser Ketzer auf dem Scheiterhaufen. Das war zu Anfang dieses Jahrhunderts.«
»Und was hat das alles mit Fra Dolcino zu tun?«
»Mancherlei, mein Sohn, und daran kannst du sehen, wie das Ketzertum selbst die Vernichtung der Ketzer zu überleben vermag. Dolcino war der Bastard eines Priesters in der Diözese Novara, wenige Tagereisen nördlich von
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