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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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Millimeter Abstand hinzugefügt. Aber wie gesagt, die Zeichnung war, mit Ausnahme des Quadrats in der Mitte, freihändig entstanden: Jede versehentliche Abweichung in einer Umrisslinie war gewissenhaft in der nächsten wiederholt worden, und da jedes Quadrat größer war als das vorherige, wurden auch die Abweichungen größer, bis die Quadrate ganz außen nicht mehr aussahen wie Quadrate, sondern wie riesige, chaotische Irrgänge.
    Nach meiner Einschätzung betraf dieses heimliche Projekt des namenlosen Sklaven – ob Sklave oder Sklavin, werden wir nie erfahren – uns alle. Da war sie zur Schau gestellt, die Krux unserer Größe und Erhabenheit. Obwohl als künstlerischer Akt eingängig und durchschaubar, zeigte die Zeichnung die sinnlose, ohnmächtige Neigung elementarer Dinge, aus dem Ruder zu laufen und sich in Unfug zu verwandeln, veranschaulichte die grotesken Überschichtungen der christlichen Urlehre, erklärte die fatale Verwässerung von Regeln und Vorschriften durch Regierungen – betraf jeden von uns im Sinne jener fortschreitenden Apostasie aller perfekten Dinge, die wir vorfinden oder erschaffen.
    Betroffenheit. Das war nicht nur meine Reaktion darauf. Ich sprach mit vielen, die diese Arbeit kannten, und alle empfanden das Gleiche, wenn auch auf unterschiedliche Weise, falls das einen Sinn ergibt. Sie fühlten sich unwohl in ihrer Gegenwart, herausgefordert, verstört. Vermutlich machte das die Arbeit, über eine bloße Zeichnung hinaus, zu Kunst.
    Sie war nicht schön, nicht besonders jedenfalls, es sei denn, man betrachtet gern Baumringe auf einem frischen Stumpf, und genau genommen war sie auch nicht so faszinierend oder rätselhaft wie ein Stück Holz. Phänomene der Natur, die Wolken, das Meer, sind vierdimensional, und auch der Holzklotz ist es, denn er legt den Gedanken nahe, dass jeder Ring ein Jahr gebraucht hat, bis er entstanden ist. Die anonyme Zeichnung dagegen war nichts als jede Menge kümmerlicher Konzentrizität, aber sie tat eine Wahrheit kund. Sie machte mich in jeder Hinsicht zum Fundamentalisten. Ich ging nicht hin, um sie «auf mich wirken» zu lassen. Ich ging hin, damit sie mich verurteilte.
    Ich kann nicht behaupten, dass ich mich gut an diesen einen Besuch im Museum erinnere. Aber ich muss in schlechterer Verfassung gewesen sein als sonst an diesem Tag, einem schlimmen Jahrestag, denn ich ließ ihn später noch denkwürdig werden, indem ich beschloss, bei Heidi Franklin vorbeizuschauen, der Kunsthistorikerin, mit der ich für kurze Zeit in einer Kapsel durch die ersten Momente des langen Winters geschwebt war, damals auf der Witwensteige über Ted MacKeys Haus.
    Was auch immer ich an diesem Tag im Museum sonst noch tat, es muss irgendeinen wortlosen Austausch zwischen mir und Bill gegeben haben, in dessen Verlauf wir einander flüchtig zur Kenntnis nahmen und ich mich fragte, ob er mich wohl erkannte. In den vergangenen vier Jahren hatte er sich einen Schnurrbart stehenlassen und einen Stuhl zugelegt, auf dem er dieser Tage sichtlich gelangweilt, wenn auch nicht unaufmerksam saß. Und bestimmt kein Geld zählte. Vielleicht bezog er eine Pension vom Militär oder irgendeine andere Unterstützung, die es ihm ermöglichte, vom Lohn eines privaten Sicherheitsdienstes zu leben.
    Ich nickte, ich lächelte. Bill auch. Ich glaubte, dass er an irgendeinem Scheideweg seines Lebens Entscheidungen getroffen hatte, die ihm als solche damals gar nicht bewusst gewesen waren – Entscheidungen, die ihm einen Orden eingebracht oder dazu geführt hatten, dass er Kameraden im Stich ließ … Sicher ging da meine Phantasie mit mir durch, aber in seinen Augen sah ich einen vergangenen, noch nicht ganz verblassten Krieg.
    Darauf kamen wir in unseren – pardon, in meinen – imaginären Gesprächen oft zurück. Auf diese unmerklichen Momente, in denen wie bei einem Münzwurf das Schicksal seine größten Volten schlägt. Ich wurde gegenüber Bill nicht deutlicher als gegenüber anderen, doch er erzählte mir freimütig von seinem Leben nach dem Vorfall, der passiert war oder eben nicht. Erzählte, dass er danach gefunden habe, etwas zu entscheiden oder eben nicht zu entscheiden sei unmöglich. Dass er sich an einem gewissen Punkt seiner Reise aus der Trauerzeit heraus in einen Tunnel verirrt habe und darin weitergegangen sei, allein, ohne jemanden zum Reden und unfähig zu schreien. Wegen dieser Konsequenzen, dieser sekundenbruchteilhaften Konsequenzen, sei alles, was er getan oder eben nicht

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