Der Narr
Revoluzzer und Meister des passiven Widerstands. Man musste den ›Großkopferten‹ schon einmal zeigen, dass ›die da unten‹ auch noch da waren.
Und dennoch, aller Widerstände zum Trotz, war er einer der Besten. Remmel war allerdings auf seine hohe Aufklärungsquote nicht so stolz wie andere es gewesen wären. Seiner Meinung nach lag sein ausgezeichneter Schnitt nicht daran, dass er so intelligent war, sondern daran, dass die meisten Kollegen so dämlich waren. Er brauchte keinen Ruhm; zumindest keinen, bei dem er sich vor großem Publikum ins Rampenlicht stellen müsste, um irgendwelchen Promis die Hand zu schütteln.
Nach Linz zu fahren, bedeutete die Jungs im Stich zu lassen. Doch dem Chef in einer so brisanten Sache den Befehl zu verweigern, könnte selbst bei einem pragmatisierten Beamten Konsequenzen haben. Sie würden ihn vielleicht in das ›Loch‹ stecken: Das gefürchtete Büro im Keller neben dem Archiv, in dem es muffig roch und der Weg zur nächsten Leberkässemmel weit war. Selbst die hartgesottensten Kollegen gaben nach Monaten im Loch klein bei.
Endlich hatte der Präsident seine Ansprache beendet. Remmel hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört. Er merkte, wie sich die genauen Anweisungen des Chefs bereits langsam wieder aus seinem Hirn verflüchtigten. Er wusste, was zu tun war: der Mörder von Alice Heisenstein musste verhaftet werden – das „Wie“ war seine Sache.
Remmel schaltete fürs Erste einmal seinen Röhrenmonitor aus und fuhr den Rechner herunter. Er zog sein khakifarbenes Sakko mit Quer- und Längsstreifen in verschiedenen Brauntönen an und blickte auf die Uhr. Er musste ohnehin noch ein wenig warten, bis das Rattern der Festplatte verklungen war. Seit ihm vor über zehn Jahren ein Kollege aus der IT eingetrichtert hatte, nicht zu gehen, bevor das letzte Licht am PC erloschen war, war das Warten zur Tradition und willkommenen Pause geworden. Um nichts in der Welt würde er seinen alten Computer gegen einen neuen Rechner tauschen. So sehr die IT auch versucht hatte, ihm einen nagelneuen Laptop aufzuschwatzen, er war standhaft geblieben. Alles musste so bleiben wie es war, nichts durfte verändert werden.
*
Die Sonne heizte den Asphalt der Straßen von Linz auf. Sam saß in der hintersten Reihe der Straßenbahn, tief in einen Sitz gekauert. Die meisten in der ›Bim‹ hatten sich dem verrückten Aprilwetter angepasst, manche waren sogar schon beinfrei unterwegs. Sam jedoch schwitzte in der Daunenjacke, die er ohne zu überlegen vom Kleiderständer gerissen hatte, um so schnell wie möglich aus der Wohnung zu kommen.
Wie ein Zombie war er mit dem Bus nach Linz gefahren. Es war höchste Zeit aufzuwachen. Die Polizei zeigte auf den Straßen Präsenz. Möglicherweise waren bereits Fahndungsfotos im Umlauf. So mancher Fahrgast starrte ihn fragend an, vielleicht nicht nur wegen der Daunenjacke bei frühsommerlichen Temperaturen.
»Nächste Haltestelle – Harbach« – Noch sieben Stationen.
Die drittgrößte Stadt des Landes und nur eine Straßenbahn. Anderswo hätte er in der Zeit, in der er durch den nördlichen Stadtteil Urfahr gegondelt war, schon die halbe Stadt in der U-Bahn durchquert. Niemand durfte die Angst aus seinem Gesicht ablesen. Jemandem mit deutschen Wurzeln, einem ›Piefke‹, etwas auszuwischen, war in Österreich eine Heldentat: Alles nördlich von Bayern war Feindesland.
Konnte man ihn bereits identifizieren? Rief dieser Schnösel nur zwei Meter von ihm entfernt bereits mit seinem Smartphone die Lokalnachrichten ab? Das Telefonat von diesem Kerl war nicht zu überhören gewesen. Wieder einer, der auf alles eine Antwort wusste. Jemand, der sich überall einmischte und sich wichtig machte. Auf alles einen zynischen Kommentar auf Lager, aber selbst schnell gekränkt: Dieser statusgeile Mensch im pinken Hemd und Designer-Uhr war eine Gefahr – genau wie jeder andere, der mit seinem Mobiltelefon spielte. Sie hatten alle einen potentiellen Fahndungsbrief in der Hand.
Steck doch endlich dieses verdammte Telefon weg! Sam bei der Polizei zu melden, würde ›Pinky‹ zum Helden machen. Er wäre einmal im Leben nicht der Klugscheißer, den jeder für seine Minderwertigkeitskomplexe hasste.
»Nächste Haltestelle – Ontlstrasse« – Noch sechs Stationen.
Pinky verließ die Straßenbahn, niemand in Reichweite. Eine kurze Verschnaufpause. Wo war Doctor Who mit seiner Zeitmaschine, wenn man ihn brauchte? Selbst ein Sprung auf ein Vogon-Schiff wäre ein
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