Der Narr
den Meistergrad in der Hexenkunst erlangt und bot nun ihre Dienstleistungen vom Tarot bis zur spirituellen Beratung an. Interessenten wurden gebeten, ihren Esoterikladen in der Linzer Altstadt aufzusuchen. Sam war auf dem Weg zu eben dieser auf dem Foto überschminkten, schwarzhaarigen Frau mit Bettie-Page-Frisur.
»Nächste Haltestelle – Rudolfstraße« – Immer noch zwei Stationen. Und die Gefahr einer filmreifen Verfolgungsjagd war noch lange nicht vorbei.
Zwei Jugendliche in Hosen, die ihnen fast komplett über ihre Hüften hinab hingen, schlurften lässig in die Straßenbahn. Ihnen folgten zwei fast zur Unkenntlichkeit geschminkte Mädchen in hautengen Jeans. Dass die beiden Jungs blödelten, um einer der beiden Wasserstoffblondinen zu gefallen, wäre nicht Sams Problem gewesen. Was ihm aber Schweißperlen auf die Stirn trieb, war, dass eine der beiden Mädchen nach einem Blick auf ihr Handy ihn offensichtlich anstarrte. Ein paar Sekunden noch, dann könnte er rausspringen. Sie stupste ihre Freundin an. Ein paar Sekunden noch. Sam war bereit aufzuspringen, um so schnell wie möglich die Straßenbahn zu verlassen. Aber was, wenn sie ihm folgten?
Endlich blieb die Bim stehen. Er wagte nicht, nach hinten zu schauen, um zu sehen, ob ihm jemand folgte. Erst nachdem er die Unterführung zur Nibelungenbrücke passiert hatte, blickte er vorsichtig in alle Richtungen. Keine zehn Pferde brachten ihn noch einmal in eine Bim. Den restlichen Weg zum Hauptplatz konnte er auch zu Fuß gehen.
Während er die Nibelungenbrücke auf dem Weg zum Hauptplatz passierte, erhaschte er einen Blick auf den früheren Streitpunkt zwischen Wien und Linz. Er stellte es sich bildlich vor: Ein Wiener k.u.k.-Beamter zitiert Vertreter Oberösterreichs zu sich. »Meine gnädigen Herren. Was erlauben Sie sich? Der Neue Dom in Linz soll höher werden als unser Steffel in Wien? Das geht aber nicht! Ihre kaiserliche Majestät bittet tunlichst darum, dies zu korrigieren.«
Die Linzer gehorchten auf österreichische Art: Den Turm, der sich noch im Bau befand, krümmte man leicht, damit die Turmspitze bei der Fertigstellung niedriger als die des Stephansdomes war. Nach der Abreise der Wiener Delegation aber wurde ein monströses Kreuz auf die Turmspitze gehievt. Eingeweihten bot sich nun ein anderes Bild: Rechnete man dieses Symbol der Christenheit in die Höhe mit ein, stand der höchste Dom Österreichs in Linz.
Sam blickte auf die Tarotkarte, seine ganz persönliche ›Kreuzfrage‹. Das fehlende Puzzleteil, das alles in ein anderes Licht rücken konnte, wenn er seinen Ursprung oder seine Bedeutung verstehen konnte.
*
Keuchend schleppte Remmel sich Stufe für Stufe nach oben. Die ›Hirnederln‹ von der Administration hatten die Czerny zwei Monate zuvor in eines der oberen Stockwerke verfrachtet. Seitdem war der Gang zu seiner Kollegin zum Martyrium geworden. Obwohl er sich bei den verantwortlichen Damen und Herren bereits lautstark über diesen Blödsinn beschwert hatte, wurde diese Umstrukturierung nicht rückgängig gemacht. Ein ›gaches Häferl‹ hatten sie ihn genannt. Um ihnen für diese Beleidigung eins auszuwischen, stahl er heimlich das ›Häuslpapier‹ aus ihren Toiletten. Seitdem herrschte Krieg zwischen ihm und der Administration.
Was in der Fernsehserie ›Kottan ermittelt‹ für Polizeipräsident Pilch der Kaffeeautomat war, war für Remmel der Lift. Er hätte schwören können, dass es ein System dahinter gab: Immer, wenn er sich dem Lift gerade näherte, war dieser außer Betrieb.
Sein Übergewicht lag zum Teil auch in der Familie. Schon die Oma, selbst auch nicht die Schlankeste, sah es gerne, wenn jemand Fleisch auf den Rippen hatte. Sie hatte ungern ›Zniachterln‹ unter ihren Enkeln gesehen. Ihre größte Sorgfalt galt dem Essen. Den Kindern musste etwas ›G’scheites‹ zum Essen vorgesetzt werden. Lange war Remmel deswegen ihr Lieblingsenkel gewesen, weil er immer alles aufgegessen hatte. Auch das, was noch auf den Tellern der anderen war – manchmal sogar ohne deren Einverständnis. Aber als dann selbst die Oma ihr Lob über seine Statur eingestellt hatte, wenn er auftauchte, wurde ihm klar, dass es zu viel des Guten geworden war.
Blöde Sprüche war er längst gewohnt. Wenn sich ein ›vollgeschwitzter Blader‹ die Treppe hochquälte, waren dumme Meldungen schon vorprogrammiert. Mit dem Getuschel hatte Remmel kein Problem, das Reden konnte man den Kollegen nun mal nicht verbieten.
Die mit der
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