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Der Neue Frühling

Der Neue Frühling

Titel: Der Neue Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jordan
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entsprach. Die Breite ihrer Stola verlieh den Gerüchten Gewicht; allerdings war das eine Sache der persönlichen Entscheidung.
    Wie bei allen Aes Sedai, die lange genug mit der Einen Macht gearbeitet hatten, konnte man Gitaras Gesicht unmöglich ein Alter zuordnen. Beim ersten Blick hätte man sie auf kaum älter als fünfundzwanzig geschätzt, vielleicht sogar jünger, während der zweite Blick auf jugendliche fünfundvierzig oder fünfzig hinwies, auch wenn das Gesicht nicht ganz an eine klassische Schönheit herankam, aber der dritte veränderte die Einschätzung dann wieder. Dieses faltenlose, alterslose Gesicht war für die Eingeweihten das Zeichen der Aes Sedai. Für diejenigen, die es nicht wussten – und davon gab es viele –, ließ ihr Haar das Rätsel nur noch verzwickter erscheinen. Es war schneeweiß und wurde von geschnitzten Elfenbeinkämmen gehalten. Hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Gerüchten zufolge war sie über dreihundert Jahre alt, was selbst für eine Aes Sedai sehr alt war. Über das Alter der Schwestern zu sprechen galt als ausgesprochene Beleidigung. Sogar eine Schwester würde dafür bestraft werden; eine Novizin oder Aufgenommene würde sich auf eine Prügelstrafe gefasst machen müssen. Aber darüber nachzudenken zählte bestimmt nicht.
    Noch etwas anderes zeichnete Gitara aus. Sie besaß das Talent, Dinge vorherzusagen, die in der Zukunft geschahen.
    Das war ein ausgesprochen seltenes Talent, und sie schaffte es auch nur gelegentlich, aber der Klatsch besagte – die Quartiere der Aufgenommenen quollen nur so über vom Klatsch –, dass Gitara in den vergangenen paar Monaten mehr als eine Vorhersage erlebt hatte. Jemand hatte behauptet, dass es einer von Gitaras Vorhersagen zu verdanken war, dass die Heere vor der Stadt an Ort und Stelle waren, als die Aiel kamen. Natürlich wusste es keine der Aufgenommenen genau. Vielleicht war es bei einigen der Schwestern der Fall. Vielleicht. Selbst wenn allgemein bekannt war, dass Gitara Vorhersagen konnte, erfuhr oft nur Tamra, worum es ging. Die Hoffnung, bei einer von Gitaras Vorhersagen anwesend zu sein, war albern, aber Moiraine hatte es dennoch gehofft. Doch in den vier Stunden, seit sie und Siuan Temaile und Brendas im Dienst bei der Amyrlin abgelöst hatten, hatte Gitara nur dort gesessen und einen Brief geschrieben.
    Unvermittelt wurde ihr klar, dass vier Stunden eine sehr lange Zeit waren, um an einem Brief zu sitzen. Und Gitara hatte bis jetzt nicht einmal eine halbe Seite geschrieben. Sie saß da, den Stift über das cremefarbene Blatt gehalten. Als hätten Moiraines Gedanken sie irgendwie erreicht, betrachtete Gitara den Stift und gab einen leisen irritierten Laut von sich, dann wirbelte sie die Stahlfeder in einer kleinen, roten Schale mit Alkohol herum, um die getrocknete Tinte zu entfernen, und das offensichtlich nicht zum ersten Mal. Die Flüssigkeit in der Schale war ebenso schwarz wie die in dem mit einer Silberkappe versehenen gläsernen Tintenfässchen auf dem Tisch. Eine goldgeränderte Ledermappe voller Papiere lag offen vor Tamra, und sie schien sie aufmerksam zu studieren, aber Moiraine konnte sich nicht daran erinnern, die Amyrlin auch nur ein einziges Blatt umdrehen gesehen zu haben. Die beiden Aes Sedai-Gesichter waren Abbilder kühler Ruhe, aber offensichtlich waren sie besorgt, und das bereitete auch Moiraine Sorge. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie angestrengt nachdachte, musste dann aber aufhören, weil ein Gähnen drohte. Mit dem Beißen, nicht mit dem Denken.
    Es musste etwas sein, das ihnen ausgerechnet an diesem Tag Sorgen bereitete. Sie hatte Tamra am Vortag in den Korridoren gesehen, und wenn es je eine Frau gegeben hatte, die vor Zuversicht nur so strotzte, dann sie. Also. Die Schlacht, die nun seit drei Tagen wütete. Falls Gitara tatsächlich die Schlacht Vorhergesehen hatte, falls es tatsächlich so gewesen war, was hatte es da möglicherweise noch gegeben? Wildes Raten würde nichts bringen, aber logisches Denken vielleicht schon. Dass die Aiel die Brücken überquerten und in die Stadt vordrangen? Unmöglich. In den dreitausend Jahren, in denen Nationen aufstiegen und untergingen und selbst Falkenflügels Reich von Feuer und Chaos davongefegt worden war, war es keinem Heer gelungen, Tar Valons Mauern zu durchbrechen oder seine Tore zu stürmen, und im Verlauf dieser Zeit hatten es einige versucht. Dass sich die Schlacht vielleicht auf eine andere Weise in eine Katastrophe

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