Der Preis des Lebens
Hauseingangs hinweg und bezog unter einem ausladenden steinernen Torbogen Position, wo er sich in die Schatten drückte und in die Nacht spähte.
Lorn wusste, dass das hohe Eckhaus dort vorn auf der anderen Straßenseite Grumdan dem Salzhändler gehörte, der es vor fünf Jahren wiederum an Nugal vermietet hatte. Verschiedenen Quellen nach war dieser ein recht fähiger Magier vom Orden des Blauen Falken, der sich vor einigen Jahren in der Stadt niedergelassen hatte und heutzutage nur noch selten für seinen Orden aktiv war – was freilich nichts zu bedeuten hatte. Doch Nugal war in diesem Spiel ohnehin nur eine Nebenfigur, an der Lorn kein Interesse hatte.
Lorns Interesse galt einzig und allein dem Vampir.
Durch die Verbindung von Fachwerk und grauen Steinquadern erinnerte das schmale zweistöckige Gebäude Lorn ein wenig an einen Getreidespeicher aus den Außenbezirken nahe der Stadtmauer. Wie von selbst wanderte der Blick des Jagam in Richtung des oberen Stockwerks, das fast wie ein trutziger Turm in die Nacht ragte – Nugals Werkstatt, wie Lorn von einem Informanten erfahren hatte. Jener Schreinermeister hatte dort nach einem Feuer im Frühling des letzten Jahres die Ausbesserungsarbeiten durchgeführt und sich für ein paar Silbermünzen an interessante Details wie Dienstboteneingänge und magische und nichtmagische Wächter erinnert.
Lorns Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Dabei spannten sich die feinen blassen Narben, die sein Gesicht wie das Adernetz eines Blattes überzogen, deutlich um Augen, Nase und Mund. Dort oben, hinter den geschlossenen Fensterläden, hoffte Lorn den Vampir dingfest machen zu können.
Um ihrer beider Jagd damit endlich ein Ende zu setzen.
*
Visco DeRául tat etwas, das er schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte: Er fürchtete sich.
Wenngleich es nach außen hin auch den Anschein haben mochte, als ob Nugals Warnungen ungehört an ihm abprallten, so wusste Visco doch nur allzu gut, dass die Gefahren nicht kleiner wurden oder gar verschwanden, nur weil er sie ignorierte. Oh, Nugal würde sich anstrengen und war äußerst fähig, das stand außer Frage, und Visco glaubte auch an die Echtheit des Textes. Doch würde er selbst, sein eigener Körper, die Strapazen des Rituals aushalten? Oder würde er an ihnen zu Grunde gehen? Und wenn – wäre das wirklich so furchtbar, wie er glaubte? Und rechtfertigte dies überhaupt den Anfall von existenzieller Angst, die sich wie eine schwarze Wolkenfront in seinem Inneren zusammenzog? Durfte er , der er so vielen den Tod gebracht hatte, sich überhaupt vor der Auslöschung der eigenen Existenz fürchten?
Visco versuchte, sich nicht weiter mit solchen Fragen zu beschäftigen, um das Ritual nicht schon von vornherein zum Scheitern zu verdammen. Erneut schloss er die Augen und versank einmal mehr in Erinnerungen; Erinnerungen an eine andere Nacht unter dem Vollmond.
Eine Nacht vor über zweihundert Jahren ...
*
Der Vollmond schien durch das offene Fenster und tauchte ihre Körper unter dem zerwühlten Bettzeug in ein apokalyptisches Schattengebirge aus von der Nachtluft gekühlter Lava, in Schluchten und Gipfel gemächlich verrauchender Leidenschaft.
»Ich dachte eigentlich immer, dass eure Beute nicht noch einmal erwacht, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hat.« Visco seufzte. »Zumindest nicht ... so. «
So lebendig, hätte Visco am liebsten gesagt, doch brachte er das Wort nicht über die blassen Lippen.
Er spürte, wie Almacya sich neben ihm regte, ihr warmer Körper sich an seine Seite schmiegte. »Hast du es mit dem Sterben wirklich so eilig, Liebster?«, fragte die nach außen hin junge Frau mit einem Hauch von Spott und gleichzeitig der Weisheit mehrerer Jahrhunderte in der Stimme. Ihre Bewegungen unter der Decke hatten etwas Katzenhaftes und Lauerndes.
Visco zuckte mit den Schultern.
Er hob den rechten Arm ein Stück und bewegte zweifelnd seine Finger, ballte die Hand zur Faust und öffnete sie wieder. »Ich fühle mich nicht anders als vorher. Noch genauso schlecht und leer.«
Und gleichzeitig so verdammt tot, ergänzte er gedanklich voller Traurigkeit und spürte, wie bitter diese Erkenntnis schmeckte. Aber nicht so tot, wie ich das gern hätte. »Gib deinem Körper Zeit, sich daran zu gewöhnen.« Almacya lächelte. »Zeit ist jetzt nicht mehr dein Problem. Dieses Problem gehört allein den Normalsterblichen, mein Lieber.«
»Normalsterbliche? Mhhm. Wie elitär .« Visco wirkte nicht sonderlich beeindruckt. »Jetzt habe ich also bis
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