Der Preis des Lebens
Weisheit ist die Summe aus Erfahrungen und Schmerz.
Folglich wusste nach über zweihundertvierzig Jahren auf dieser Welt wohl niemand besser als Visco DeRául, dass der Schleier des Vergessens nichts weiter als eine ebenso schäbige wie brüchige Illusion war, damit einem die Widrigkeiten des Alltags erträglicher erschienen und man die staubige Straße immer weiter beschritt, bis einen der Tod oder sonst eine Macht am Ende der Reise mit einer Krone aus schwarzen Rosen empfing.
Trotz dieses Wissens hätte Visco momentan viel dafür gegeben, der Illusion gnädigen Vergessens erliegen zu können.
Nicht etwa, weil er die ersten Gebrechen des Alters oder gar schon den eisigen Hauch des Todes im Nacken spürte. Nein, Visco DeRául wünschte sich die dumpfen Schleier des Vergessens vor allem deshalb herbei, weil seine Erinnerungen derzeit jeden Tag von Neuem seinen Verstand bedrohten und Visco gefährlich nahe an jenen seelischen Abgrund drängten, aus dem die kreischenden Flammen des Wahnsinns empor loderten wie das Höllenfeuer der Verdammnis.
Visco seufzte, als er sich an den Beginn der ganzen Misere erinnerte. Daran, wie vor gut zwei Monaten Gefühle, von denen er seit Jahr zehnten nichts mehr gespürt hatte, plötzlich aus ihrer Versenkung hervor gebrochen waren, um Viscos Gewissen regelrecht mit Schuldgefühlen zu überfluten. Dabei hatten die scharfen, in das Gift der Schuld getauchten Krallen der Erinnerung ihm binnen kürzester Zeit einige so tiefe Wunden zugefügt, dass Visco schon argwöhnte, nur noch um einen kümmerlichen Rest seiner geistigen Gesundheit zu bangen – was allerdings immer noch genug war, um das eine oder andere Opfer zu rechtfertigen.
Opfer. Visco drehte das Wort gedanklich ein paar mal hin und her, ohne dass es dadurch schmackhafter wurde.
Im Gegenteil. Denn auch in dieser Stunde erinnerte Visco sich wenigstens einmal an das Gesicht seines letzten Opfers – woraufhin sich die Flammen des Wahnsinns sofort wieder ein Stück tiefer in seinen Verstand fraßen, die Last seines Handelns ihn ein Stück weiter in Richtung Abgrund trieb.
Visco ließ sich mit steifen Bewegungen auf der Pritsche nieder und starrte gedankenverloren vor sich hin.
Wie hatte das alles bloß so weit kommen können?
Eigentlich hatte er sich seit jeher für einen Mann von Ehre gehalten – einen Ehrenmann mit dem einen oder anderen Laster zwar, sicher, aber dennoch einen Ehrenmann, der das Spiel nach bestimmten Regeln spielte und dafür mit seinem Gewissen stets im Reinen war. Oder zumindest in Ruhe gelassen wurde.
Ein bitteres Lächeln huschte über Viscos Gesicht.
Bis zu den Geschehnissen jener Nacht war ihm ja nicht einmal bewusst gewesen, dass jemand wie er überhaupt noch so etwas wie ein Gewissen besitzen konnte.
Müde schloss er die Augen und lehnte sich zurück, bis er rauen, kühlen Stein am Hinterkopf fühlte.
Mittlerweile wusste er nur allzu gut, dass selbst seinesgleichen noch immer im Besitz eines Gewissens sein konnte – dass sein anderes Ich in dieser Sache sogar überhaupt keine Rolle spielte und seinen Fall höchstens noch beschleunigte, so heftig wie seine Erinnerungen und eben sein Gewissen ihn seit jener verhängnisvollen Nacht quälten. Am Ende unterlag schließlich auch der Vampir in Visco DeRául jenem letzten schuldbewussten Aufblitzen von Menschlichkeit, dessen die zerfetzten Überreste seiner in der Finsternis verirrten Seele anscheinend nach wie vor fähig waren.
Ein frostiges Schaudern suchte den Vampir heim, als seine Gedanken erneut zu den Geschehnissen jener Nacht zurückkehrten; zurück in das luxuriöse Schlafzimmer mit dem aufwendigen Deckengemälde über dem Doppelbett; zurück zu der attraktiven jungen Frau darin, ihren glänzenden Augen, dem Duft ihrer Haut und ihrem weichen Haar; zurück zu dem glockenhellen Lachen, dessen jugendliche Unbeschwertheit Visco den ganzen Abend über in den Bann gezogen hatte.
Und zurück zu der Erkenntnis , die für Visco DeRául alles verändert hatte ...
*
»Danke, Liebes.«
Ein gehauchter Kuss auf weiche, warme Lippen, die im Morgengrauen allerdings bereits kalt sein würden. Viscos bleiche Hand strich sanft über die Augen der dunkelblonden Schönheit und schloss mit Daumen und Mittelfinger vorsichtig die Lider; lange Wimpern kitzelten Viscos Fingerkuppen.
Geraume Zeit lag der Vampir auf der Seite und gab sich ganz der Betrachtung des Engelgesichts in den Kissen hin, das eine Spiegelung des Deckengemäldes über dem Bett zu sein schien, wo Löwen,
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