Der Professor
war, hatten die Streifenpolizisten sie auf ihren Platz für Dienstfahrzeuge hinter der Station gewunken. An diesem letzten Tag hatte sie Glück und fand eine Lücke direkt vor dem Eingang des modernen Baus aus Ziegel und Glas. Sie nahm sich nicht die Zeit, Münzen in die Parkuhr einzuwerfen, sondern sprang nur, den Blumenstrauß in der Hand, aus dem Wagen.
Sie überquerte den breiten Bürgersteig Richtung Tür. Direkt daneben befand sich eine Gedenktafel aus Bronze an der Wand. Unter einem glänzenden Goldstern, der die Sonne einfing, stand in erhabenen Lettern:
Zum Gedenken an Detective Terri Collins.
In Ausübung ihrer Pflicht gestorben.
Tapferkeit. Einsatz. Opferbereitschaft.
Jennifer legte die Blumen unter die Plakette und verweilte einen Moment in stillem Gedenken. Manchmal erinnerte sie sich daran, wie die Ermittlerin ihr bei einem ihrer Ausreißversuche gegenübergesessen und versucht hatte, ihr klarzumachen, wieso Flucht keine gute Idee war, was Jennifer ihr aber nicht abgenommen hatte. Sie erklärte ihr damals, dass es andere Auswege gebe, sie müsse nur gründlich danach suchen. In den drei Jahren, seit die Polizistin bei ihrer Rettung starb, hatte sie herausgefunden, wie recht sie damals hatte. Manches Mal hatte sie der Plakette zugeflüstert: »Ich mache genau, was Sie gesagt haben, Detective. Ich hätte auf Sie hören sollen. Es stimmte, von Anfang an.«
Mehr als ein Polizist hatte ihre Zwiesprache mitbekommen, doch niemand hatte sie je gestört. Im Unterschied zu der Floristin, die sie donnerstags erwartete, wussten sie alle, wieso Jennifer kam.
»Es ist Donnerstag, muss wohl Gedichttag sein«, sagte die Schwester in freundlich beschwingtem Ton. Sie sah von ihrem Papierkram und einem Computerbildschirm am Empfangstisch der Eingangshalle auf; das geduckte, unansehnliche Schlackensteingebäude befand sich unweit einer der Zufahrtsstraßen, die in die kleine Universitätsstadt führten. Die Türen waren für Rollstühle und fahrbare Tragbahren ausgelegt und mit automatischen Türöffnern versehen, die auf Knopfdruck einen Pfeifton von sich gaben.
»Genau«, antwortete Jennifer und lächelte zurück.
Die Schwester nickte, schüttelte dann aber den Kopf, als weckte Jennifers Eintreffen glückliche wie traurige Assoziationen. »Wissen Sie, meine Liebe, möglicherweise versteht er nichts mehr, aber er freut sich immer sehr auf Ihre Besuche. Das sehe ich ihm einfach an. Wenn er donnerstags auf Ihren Besuch wartet, scheint er immer ein bisschen wacher zu sein.«
Jennifer schwieg. Sie wandte sich einen Moment ab und blickte nach draußen. Unter dem dichten grünen Blätterwerk, das sich mit den Böen raufte und vereinzelte Sonnenstrahlen durchblitzen ließ, war das Namensschild des Gebäudes noch nicht ganz verdeckt: Valley Pflegeheim und Rehazentrum.
Sie drehte sich wieder zur Schwester um. Sie wusste, dass alles, was die Frau sagte, die Wahrheit Lügen strafte. Er war nicht
wacher
. Vielmehr verschlechterte sich sein Zustand zusehends Woche für Woche.
Nein,
korrigierte sich Jennifer,
er baut stündlich ab
. »Das merke ich auch«, stimmte sie in die Lüge ein.
»Und wen haben Sie für den heutigen Besuch mitgebracht?«, fragte sie.
»W. H. Auden und James Merrill«, antwortete Jennifer. »Und Billy Collins, der ist so witzig. Und noch ein paar andere, falls uns die Zeit bleibt.«
Wahrscheinlich kannte die Schwester keinen der Dichter, doch sie tat so, als leuchtete die Auswahl vollkommen ein. »Er ist draußen auf der Terrasse«, sagte sie.
Jennifer fand den Weg allein. Sie nickte ein paar anderen Pflegern und Schwestern zu, an denen sie vorbeikam. Sie kannten sie alle als das Donnerstagsmädchen mit den Gedichten, und ihre Regelmäßigkeit war ihnen Grund genug, sie nicht zu stören.
Sie fand Adrian in einem Rollstuhl in einer schattigen Ecke. Er war an der Taille leicht vornübergebeugt, als betrachtete er aufmerksam einen Gegenstand direkt vor ihm, auch wenn Jennifer an der Neigung seines Kopfes erkannte, dass er nicht einmal die schöne Nachmittagssonne sehen konnte. Seine Hände zitterten, und seine Lippen zuckten von parkinsonähnlichen Symptomen. Sein Haar war inzwischen schlohweiß, ein wenig strähnig und zerzaust. Von der körperlichen Fitness, auf die er sich früher hatte verlassen können, war ihm nichts geblieben. Seine Arme waren knochendünn, und seine schwachen Beine zuckten nervös. Er war abgemagert und unterernährt, und da er nicht rasiert war, hatte er graue Stoppeln
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