Der Professor
1
A ls die Tür aufging, wusste Adrian, dass er tot war.
Der hastig abgewandte Blick, die eingezogenen Schultern, die nervösen, gehetzten Schritte, mit denen der Arzt das Zimmer durchquerte, ließen keinen Zweifel. Fragte sich also nur:
Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wie schlimm wird es werden?
Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten.
Adrian Thomas sah zu, wie der Neurologe in den Testergebnissen blätterte, bevor er sich hinter seinem großen Eichenschreibtisch verschanzte. Der Arzt lehnte sich im Sessel zurück, beugte sich wieder vor, blickte auf und sagte endlich: »Die Untersuchungsergebnisse schließen die meisten naheliegenden Diagnosen aus …«
Adrian hatte nichts anderes erwartet. MRT . EKG . EEG . Blut. Urin. Ultraschall. Hirnszintigramm. Eine ganze Phalanx an kognitiven Funktionstests. Inzwischen waren über neun Monate vergangen, seit er zum ersten Mal festgestellt hatte, dass er Dinge vergaß, die man sich gewöhnlich leicht merken konnte. Wie er zum Baumarkt gefahren war, wo er plötzlich vor dem Regal mit Glühbirnen stand und nicht den blassesten Schimmer hatte, was er kaufen wollte; wie er einmal in der Stadt einem alten Kollegen über den Weg gelaufen war und ihm ums Verrecken der Name nicht mehr einfiel, obwohl der Mann zwanzig Jahre lang im Dozentenzimmer nebenan gesessen hatte. Vor sechs Tagen dann hatte er abends eine geschlagene Stunde lang im Wohnzimmer ihres Hauses im westlichen Massachusetts mit seiner längst verstorbenen Frau angeregt geplaudert. Sie hatte sogar in ihrem geliebten Queen-Anne-Sessel mit dem Paisley-Bezug vor dem Kamin gesessen.
Als ihm schließlich dämmerte, was gerade geschehen war, hatte er nicht geglaubt, dass ein Computerausdruck oder eine Farbfotografie von seiner Gehirnstruktur diese Dinge sichtbar machen würde. Trotzdem hatte er sich pflichtbewusst einen Notfalltermin bei seinem Internisten geben lassen, der ihn unverzüglich an den Facharzt weiterverwies. Dort beantwortete er geduldig jede Frage, ließ sich abtasten, stupsen und röntgen.
Als seine tote Frau wieder verschwunden war und er zu seinem Entsetzen erkannte, was passiert war, hatte er den Schluss gezogen, dass er auf dem besten Wege war, verrückt zu werden – eine laienhafte, undifferenzierte Bezeichnung für Psychose oder Schizophrenie. Andererseits hatte er sich nicht verrückt
gefühlt
. In Wahrheit hatte er sich sogar recht
gut
gefühlt, als sei es völlig normal, stundenlang mit einem Menschen zu reden, der seit drei Jahren tot war. Sie hatten sich über seine zunehmende Einsamkeit unterhalten, darüber, weshalb er nach ihrem Tod und nach seiner Emeritierung auf einmal angefangen hatte, an der Uni
unentgeltlich
Seminare abzuhalten. Sie hatten über die neuesten Filme, über interessante Bücher diskutiert und darüber gesprochen, ob sie sich dieses Jahr im Juni ein paar Wochen Auszeit auf Cape Cod gönnen sollten.
Noch während er dem Neurologen gegenübersaß, kam ihm der Gedanke, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, die Halluzinationen auch nur eine Sekunde lang für ein Krankheitssymptom zu halten. Er hätte von Anfang an erkennen sollen, dass sie ein Segen waren. Er war nunmehr ganz allein, und es wäre doch angenehm, sein Leben für die Spanne, die ihm auf Erden noch blieb, wieder mit Menschen zu bevölkern, die er einmal geliebt hatte, ob sie nun existierten oder nicht.
»Ihre Symptome deuten darauf hin …«
Er wollte gar nicht hören, was der Arzt ihm zu sagen hatte, der ihn mit einem gequälten Ausdruck ansah und der viel jünger war als er selbst. Irgendwie war es unfair, von einem so jungen Mann gesagt zu bekommen, dass man todkrank war. Das hätte allenfalls einem grauhaarigen Gott in Weiß zugestanden, in dessen müder, sonorer Stimme die Erfahrung eines langen Berufslebens mitschwang, und nicht diesem Grünschnabel mit der Fistelstimme, der unbehaglich auf seinem Sessel wippte.
Er hasste das sterile, hell erleuchtete Sprechzimmer mit seinen gerahmten Diplomen und den Bücherregalen, in denen die medizinische Fachliteratur bestimmt nur zur Zierde stand. Der Mann war der Typ, der sich die nötigen Informationen schnell und bequem auf dem Computer oder einem Blackberry besorgte. Adrian blickte an dem Doktor vorbei aus dem Fenster und sah, wie sich auf den belaubten Zweigen einer Weide eine Krähe niederließ. Es schien, als würde der Arzt seinen Sermon in einer fernen Welt herunterleiern, an der er von diesem Moment an kaum noch Anteil hatte. Einen
Weitere Kostenlose Bücher