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Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Titel: Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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nicht dem Schrei des Cohe. Das Zirpen der Heuschrecke, eine einfache Melodie, die ihm inzwischen vertraut war, der Geruch
    der Wiesen und des Feuers weckten Gefühle in ihm, die er kaum kannte. Er wurde ganz ruhig und ahnte, was Gilles-Eric hier oben in der Habitation Alize gesucht, aber wohl nicht gefunden hatte: ein Leben in Frieden.
    Amadee drückte ihm den Whisky in die linke Hand, umklammerte seinen rechten Arm und schmiegte ihren Körper an seinen. Jacques nahm einen Schluck und genoss die befreiende Wirkung des Alkohols.
    Ein kurzer Trommelwirbel, dem aus einer anderen Richtung ein ähnlich dunkler Ton antwortete.
    »Die Wachen haben Feuer gemacht. Die Trommeln sagen, alles sei ruhig. Lass uns reingehen. Die Mücken kommen. Ich zeige dir den anderen Cohe, das erste Bild.«
    Ein ganz anderer Vogel, dieser Cohe. Er hatte einen weit aufgerissenen Schnabel, und dahinter lauerte, äußerst kunstvoll gestochen und koloriert, grauschwarzes Gefieder. Der geöffnete Schnabel aber bestimmte den Ausdruck des Bildes: Er zog sich in der Form einer prallen, aufgeplatzten Erbsenschote fast über die ganze Fläche, vom oberen Rand bis zum unteren. Die Innenseite des Hornschnabels schimmerte in einem warmen goldenen Gelb, doch in der Mitte des Bildes strahlte wie eine Explosion das kräftige, fast knallige Rot der kurzen Vogelzunge und des tiefen Schlundes.
    Gilles' erstes Cohe-Bild hing an der Wand gegenüber von Amadees Bett. Wenn man die Lider leicht schließt und das Bild unscharf betrachtet, kann man so manches darin sehen. Jacques versuchte es, als er am frühen Morgen noch halb träumend in Amadees Bett lag, auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf
    verschränkt.
    Der Cohe, so hatte ihm Amadee in der Nacht ins Ohr geflüstert, verkörpere nicht nur die Finsternis, nein, er diene auch den Geheimnissen der Leiblichkeit.
    Draußen hatte schon vor langem der Pipiri gezwitschert, der früheste aller karibischen Vögel. Die Sonne schien hell durch die Vorhänge und erhitzte die Luft im Schlafzimmer, so dass Jacques zu schwitzen begann, obwohl er nackt dalag, nur von einem feinen, dünnen Laken bedeckt. Neben ihm streckte sich Amadee, stieß einen wohligen Laut aus und tastete mit geschlossenen Augen nach seinem Körper.
    Als zwei Tage später der Verfassungsrat in Paris entschied, ein Präsident könne nicht vorgeladen werden, zuckte Jacques nur kurz mit der Schulter und dachte an das kreolische Bauernmädchen, an das erste von Gilles gemalte Bild des Cohe, an die Heuschrecken am späten Abend, an den Rum von Trois Rivieres, an den Pipiri am frühen Morgen.
    »Eigentlich ist dein Fall doch jetzt abgeschlossen?«, fragte Amadee, als er gegen Mittag seine Jacke aus ihrem Schlafzimmerschrank nahm.
    »Ja«, antwortete Jacques, »aber ich muss zu Hause noch ein bisschen aufräumen.«
    »Warum ziehst du nicht hierher? Die Habitation braucht einen Planteur, und die Witwenpension reicht für zwei.«
    Jacques lachte vergnügt, umarmte sie fest und sah vor sich den blutroten Schnabel des Cohe.

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