Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Die Witwe
Jacques sah sie tanzen, geschmeidig und mit abwesendem Blick zum Rhythmus der Trommeln. Sie hatte ihren schlanken Körper in ein fröhlich buntes Madrastuch gewickelt. Gar nicht wie eine Witwe, dachte er und fragte sich, wie alt sie wohl sei -schwer zu sagen, irgendwo in den Dreißigern oder doch schon vierzig?
Loulou reichte ihm die Flasche Tafia, starken, beißenden Rum, wie ihn nur Schwarze vom Lande trinken, und ermunterte ihn zu einem weiteren Schluck: »Der Tod ist bei uns Anlass zu einem großartigen Gelage.«
Jacques wischte den Flaschenhals ab, trank das braune Gesöff, hustete und schüttelte sich. Trotz seines leichten Sommeranzugs war ihm heiß, er fühlte sich wie in einem türkischen Dampfbad. Immer leiser tönten die Trommeln, nur noch ein kleiner Schlag hier oder da. Aus dem Kreis in der Mitte der Lichtung lösten sich die Tanzenden, manche blieben schweißgebadet stehen, andere fielen schwer atmend auf die Holzbänke vor den Tischen und griffen gleich zu einer Flasche Bier. In die plötzliche Ruhe stieß der dumpf krächzende Ruf eines Vogels. Koohee! Koohee! Koohee! Jemand hob beschwörend die Hand und lauschte, die Umstehenden nickten. Und die Zamanas, Bäume hoch wie eine Kathedrale, flüsterten in der Brise der Nacht. Über ihnen sah Jacques den von Sternen übersäten Himmel.
Als er auf der Plantation Alizé von Gilles Maurel kurz vor der Dämmerung aus dem Leihwagen gestiegen war, hatte er nur das laute Schnarren von Grillen gehört und in der Ferne ein vereinzeltes Bellen. Der Wind blies angenehm zu dieser Stunde. Niemand hatte sich gezeigt. Er hatte keinen menschlichen Laut gehört.
Um den zweiten Stock des Herrenhauses der Habitation führte eine Galerie aus Gusseisen. Neunzehntes Jahrhundert, hatte Jacques gedacht, schön! Doch bevor er die Stufen zur Veranda bewältigt hatte, war die Terrassentür aufgeschlagen.
Ein großer Kreole in schwarzem Anzug war herausgetreten, den linken Arm um eine Holzkiste mit Flaschen. Jacques hatte gedacht, der muss jeden Tag mindestens eine Stunde an Geräten üben, sonst baut man solche Schultern nicht auf. Er wusste das, denn Muskeln hatte Jacqueline schon lange an ihm vermisst, und jetzt vermisste er sie, wie sie damals war vor sieben Jahren, als sie sich kennen gelernt hatten.
»Zur Trauerfeier kommen Sie zu spät«, sagte der Kreole, der die Rechte vorstreckte und sich als Loulou vorstellte. Gott, was für ein wilder Händedruck, Jacques zuckte zwar, ließ sich den kurzen Schmerz aber nicht anmerken. Er sah auf Loulous Hand. Sie war mächtig, aber bis hin zu den polierten Fingernägeln penibel gepflegt.
»Jacques Ricou. - Ich bin etwas zu spät gelandet. Frau Maurel...?«
Nur für einen Augenschlag senkte der Kreole den Blick, als wollte er das Schuhwerk von Jacques prüfen, dann sagte er: »Kommen Sie mit.«
Jacques folgte Loulou, der ihn ohne viel Federlesens zur Totenfeier in den tiefen Wald im Norden von Martinique führte. Und Loulou berichtete ihm in gepflegtem Französisch, was vorgefallen war.
Gestern Abend war Gilles Maurel gestorben, und heute am Mittag hatten sie ihn schon beerdigt. Das Radioboispatate, das schneller ist als die Eile des Windes, also die Buschtrommel, hatte die Nachricht im Schatten des Mont Pelée verbreitet. Als es dunkel geworden war und die Békés, die auf den Antillen geborenen weißen Pflanzer, sich von der Witwe verabschiedet hatten, waren die Einheimischen mit Bambusfackeln und
zahlreichen Kisten Rum und Lorraine-Bier, mit gebratenen Hähnen und fetten Kaninchen weit in die Wildnis gezogen, wo die Männer Bänke und Tische aufgebaut hatten.
Die Kreolen nahmen ihn einfach nicht wahr, als er, Jacques, geführt von Loulou aus dem Wald auf die Lichtung trat. Der Tanz war schon hitzig entbrannt. Im Licht der Fackeln warfen die Körper lange, flatternde Schatten in die Bäume. Er fühlte sich unwohl, fremd, schon allein weil sein grauer Anzug viel zu elegant war. Eine modische Konzession an Jacqueline, seine Ex-Frau, die ihn hier als Pariser verriet. Nicht dass die Kreolen sich nicht ihrer Tradition gemäß gekleidet hätten, die Männer in Schwarz, die Frauen in bunten Kleidern aus Madrastüchern, einige der alten noch mit dem Kopftuch, dem Mouchoir de tétecocozaloye, um den Kopf, weil sie ihr Haar nicht gern dem verrückten Wind aussetzten. Grau und schwarz wirkt der Cocozaloye, der eigentlich nur zur Hausarbeit getragen wird.
Jacques zog das frische, gefaltete Taschentuch hervor und wischte sich
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