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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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und schließlich nach rechts abbiegen. Sie fragte sich, ob dieses
dichtbebaute Ufer auf der linken Seite Wapping war, und falls ja,
welcher dieser schwarzen Kais wohl an die Pension Holland stieß.
Die Zeit verstrich, sie fror langsam. Die Uhren schlugen wieder.
Und dann tauchte eine Gestalt unter der Gaslaterne am nördlichen
Ende der Brücke auf -- eine untersetzte Gestalt in Schwarz.
    Sally richtete sich auf; ein Gähnen blieb ihr in der Kehle stecken.
Sie stand mitten auf dem Bürgersteig, von der Brüstung entfernt, so
daß man sie gut sehen konnte, und im nächsten Augenblick begann
sich die Gestalt auf sie zuzubewegen. Es war Mrs. Holland; Sally
konnte sie deutlich erkennen. Sogar auf diese Entfernung hin schienen
die Augen der alten Frau zu glitzern. Abwechselnd war sie im
Schatten oder im Licht, sie hinkte ein wenig, schnaufte und hielt sich
die Seite, blieb aber nie stehen.
    Sie kam bis auf etwa drei Meter an Sally heran und blieb dann
stehen. Die altmodische, gebogene Haube, die sie trug, verdunkelte
den oberen Teil ihres Gesichtes, so daß nur ihr Mund und ihr Kinn
deutlich zu sehen waren; ihr Mund war die ganze Zeit in Bewegung,
als kaue sie etwas Kleines und Widerstandsfähiges; aber die Augen
funkelten immer noch in der Dunkelheit.
    „Nun, meine Liebe?" sagte sie schließlich. „Sie haben meinen Vater
umgebracht."
Mrs. Hollands Mund öffnete sich ein wenig und zeigte eine Reihe
von Zähnen. Eine spitze, lederartige Zunge schlängelte sich langsam
darüber und verschwand dann.
„Na, na", sagte sie. „Solche Anschuldigungen kannst du doch nicht
machen, Missy."
„Ich weiß alles. Ich weiß, daß Major Marchbanks -- jener Major
Marchbanks war mein Vater. Er war es doch, oder etwa nicht?"
Mrs. Holland schwieg.
„Und er hat mich verkauft, das stimmt doch? Er hat mich an
Hauptmann Lockhart verkauft, den Mann, den ich... den Mann, den
ich für meinen Vater hielt. Er hat mich wegen des Rubins verkauft."
Mrs. Holland stand völlig regungslos da, sie war ganz still.
„Weil der Maharadschah den Rubin meinem -- Hauptmann Lockhart
gegeben hat als Lohn dafür, daß er ihn während der Meuterei
beschützt hat. Das stimmt doch, oder?"
Langsam nickte die alte Frau.
„Weil die Rebellen geglaubt haben, daß er den Engländern helfe.
Und mein V... und Hauptmann Lockhart hat Major Marchbanks
irgendwo im
-- im Dunkeln gelassen, wo er den Maharadschah
bewachen sollte - "
„In den Kellern der Residenz", sagte Mrs. Holland. „Mit den Frauen
-- einigen von ihnen. Und den Kindern -- einigen von ihnen."
„Und Major Marchbanks hatte Opium geraucht -- und er hat Angst
gehabt und ist geflüchtet, und sie haben den Maharadschah
umgebracht, und als er zurückkam mit meinem -- mit Hauptmann
Lockhart... haben sie gestritten. Major Marchbanks bat um den
Rubin. Er hatte Schulden, und er konnte sie nicht zahlen - "
„Das Opium. Jämmerlich. Das Opium hat ihn umgebracht."
„Sie haben ihn umgebracht!"
„Na, na. Ich will den Rubin, Miss. Deshalb bin ich gekommen. Ich
hab 'n Recht darauf."
„Sie können ihn haben -- wenn Sie mir den Rest der Geschichte
erzählen."
     
„Wie kann ich wissen, daß du ihn hast?"
    Als Antwort nahm Sally das Taschentuch aus ihrer Tasche und legte
es auf die Brüstung unter das Gaslicht. Sie wickelte den Rubin aus, so
daß er -- rot auf weiß -- genau in der Mitte der breiten Steinbrüstung
thronte. Mrs. Holland machte unwillkürlich einen Schritt darauf zu.
    „Noch einen Schritt, und er liegt im Wasser", sagte Sally. „Die
Wahrheit. Ich weiß jetzt genug, so daß ich erkennen kann, wenn Sie
lügen. Ich will die ganze Wahrheit."
Mrs. Holland sah ihr wieder ins Gesicht.
„Also gut", sagte sie. „Du hast recht gehabt. Sie sind
    zurückgekommen und da war der Maharadschah tot, und Lockhart hat
Marchbanks als Feigling niedergeschlagen. Dann hat er das Kind
weinen hören. Du warst das. Marchbanks Frau war gestorben -- 'n
kränkliches Wesen. Lockhart hat gesagt: ‚Soll das arme Wurm mit
einem Feigling als Vater aufwachsen? Mit einem Feigling und
Opiumraucher? Nimm den Rubin, hat er gesagt. Nimm ihn und sei
verflucht, aber gib mir das Kind...'"
    Sie unterbrach sich. Sally hörte den Polizisten mit dröhnenden
Schritten wiederkommen. Keine der Frauen bewegte sich; der Rubin
lag gut sichtbar auf der Brüstung. Der Polizist blieb stehen.
    „Alles in Ordnung, meine Damen?"
„Ja, danke", sagte Sally.
„Scheußlich, wenn man in so 'ner Nacht draußen sein muß.

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