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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Philip Pullman Der Rubin im Rauch
    London 1872: Die 16jährige Sally erhält nach dem Tod ihres Vaters
einen geheimnisvollen Brief. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf
immer mysteriösere Geschehnisse. Sie ahnt nicht, daß sie in der
heruntergekommenen und skrupellosen Mrs. Holland, die in der
finstersten Hafengegend haust, eine äußerst gefährliche Feindin hat.
Sie weiß nur, daß ein kostbarer Rubin eine wichtige Rolle spielt und
daß in ihrem immer wiederkehrenden Alptraum die Lösung für alle
Rätsel liegt.
    Originaltitel: The Ruby in the Smoke Copyright © 1986 by Philip Pullman
1996 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
DIE SIEBEN WOHLTATEN
    An einem kalten, trüben Nachmittag Anfang Oktober 1872 fuhr
eine zweirädrige Droschke vor dem Büro von Lockhart und Selby vor,
einer Schiffahrtsagentur in Cheapside. So rastlos wie das Treiben in
der Stadt war auch der Wind, der über sie hinwegfegte. Die Straße war
voller Fuhrwerke; Hufgeklapper, Räderrollen und Geschirrklirren
zeugten von Hast, Betriebsamkeit und abgewickelten Geschäften.
Botenjungen eilten mit glühendem Gesicht im Pendelverkehr
zwischen Bank und Schiffahrtsgesellschaft, Versicherungsagent und
Börse, Anwalt und Finanzier hin und her -- fast so schnell wie die mit
Rechnungen gefüllten, zugeknöpften Lederbehälter, die durch die neu
installierten, mit Druckluft betriebenen Rohre in den Wänden von
Crouchs Warenhaus an der Ecke Holborn und Chancery Lane
schossen. Es nannte sich: „Das Geschäft, das alles verkauft." Da
waren der künstliche Wind in den Metallröhren und der echte Wind
am grauen Himmel, der die Firmenflaggen auf den imposanten
Gebäuden peitschte und die leichten Windböen, die lustig durch
Gassen und Höfe fuhren, Staub und Papierfetzen hochwirbelten und
sie dann wieder fallen ließen -- die Stadt war erfüllt von Windstößen,
und in der ganzen Straße waren die Augen des Mädchens, das aus der
Droschke stieg, das einzig Regungslose.
    Sie war etwa sechzehn Jahre alt, ohne Begleitung und
ungewöhnlich hübsch. Sie war schlank und bleich; die dunklen,
braunen Augen schienen einen Kontrast zu den vereinzelten blonden
Haarsträhnen zu bilden, die unter dem schwarzen Häubchen
hervorschauten. Ihr Name war Sally Lockhart; innerhalb der nächsten
Viertelstunde sollte sie einen Mann umbringen.
    Sie stand einen Augenblick lang da und schaute zu dem Gebäude
auf, dann stieg sie die drei Stufen hinauf und ging hinein. Ein düsterer
Gang empfing sie mit einer Portiersloge auf der rechten Seite, in der
ein alter Mann vor einem Kaminfeuer saß und einen Groschenroman
las. Sie klopfte an die Scheibe, worauf er sich schuldbewußt
aufrichtete und das Heft auf den Boden neben den Stuhl warf.
    „Tschuldigen Se, Miss, hab Se nich kommen sehn", sagte er. „Ich
möchte zu Mr. Selby", sagte sie. „Aber ich bin nicht angemeldet."
„Ihr Name bitte, Miss?"
„Ich heiße Lockhart. Mein Vater war... Mr. Lockhart." Er wurde
sofort freundlicher.
„Miss Sally, oder? Sie war'n doch schon mal da, Miss!"
„Wirklich? Tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern..."
„Muß mindestens zehn Jahre her sein. Sie sin hier am Feuer
gesessen und ham 'n Ingwerkeks gegessen und ham mir von Ihrem
Pony erzählt. Ham Se das schon vergessen? Du liebe Zeit... es hat mir
sehr leid getan, als ich das von Ihrem Vater erfahren hab, Miss. Das
war ja 'ne schreckliche Sache, wie das Schiff so einfach
untergegangen is. Er war 'n richtiger Herr, Miss."
„Ja... danke. Zum Teil komm ich wegen meines Vaters. Ist Mr.
Selby da? Kann ich ihn sprechen?"
„Leider nicht, Miss. Er hat bei den West India Docks zu tun. Aber
Mr. Higgs ist hier -- der Sekretär der Firma, Miss. Er redet sicher gern
mit Ihnen."
„Danke. Dann möcht ich ihn jetzt gern sprechen."
Der Portier klingelte, und ein schmächtiger Junge erschien, der den
ganzen Ruß aus der Cheapside Luft an sich zu haben schien. Seine
Jacke war an drei Stellen zerrissen, der Kragen hatte sich vom Hemd
gelöst, und seine Haare sahen aus, als habe man gerade an ihm mit
elektrischem Strom experimentiert.
„Was willste?" fragte diese Erscheinung, deren Name Jim war.
„Reiß dich mal zusammen", sagte der Portier. „Führ die junge
Dame da zu Mr. Higgs, und zwar 'n bißchen fix. Das ist Miss
Lockhart."
    Der scharfe Blick des Jungen taxierte sie einen Augenblick lang,
dann glitt er argwöhnisch zum Portier zurück. „Sie ham meine ,Union
Jack', ich hab gesehn, wie Se die versteckt ham, als

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