Das Laecheln der Sterne
EINS
A n einem milden Novembermorgen im Jahr 1999 war Adrienne Willis zu der kleinen Familienpension zurückgekehrt.
Auf den ersten Blick schien es ihr, als ob sich nichts verändert hatte, ganz so, als wäre das kleine Haus gegen Sonne und Sand und salzhaltigen Nebel unempfindlich. Die Veranda war frisch gestrichen, und in beiden Etagen wurden die Fenster mit den weißen Vorhängen von glänzend schwarzen Fensterläden eingerahmt, sodass es wie zwei Reihen von Klaviertasten aussah. Die Wände aus Zedernholz hatten die Farbe von schmutzigem Schnee. Auf beiden Seiten des Hauses nickte Strandhafer zur Begrüßung, und der Sand bildete eine geschwungene Düne, die mit jedem Tag unmerklich ihre Form veränderte, weil die einzelnen Sandkörner unablässig in Bewegung waren.
Die Sonne schien zwischen den Wolken zu schweben, und es sah so aus, als schwirrten kleine Lichtpartikel im Dunst. Das Ganze vermittelte Adrienne einen Augenblick lang das Gefühl, eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit gemacht zu haben.
Doch als sie genauer hinsah, entdeckte sie Veränderungen, die auch kleine Schönheitsreparaturen nicht zu verbergen vermochten: der Ansatz von Schimmel an den Fensterrahmen, Rostspuren am Dach, Wasserflecken unter den Regenrinnen.
Die Pension war vom Alter gezeichnet, und es stand nicht in Adriennes Macht, daran etwas zu ändern. Doch heute, drei Jahre später, wusste sie noch, dass sie die Augen geschlossen hatte, als könne sie mit einem Blinzeln das Haus wieder so erstehen lassen, wie es einst gewesen war.
Adrienne hatte vor wenigen Monaten ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert. Jetzt stand sie in der Küche ihres eigenen Hauses und legte den Hörer auf.
Sie hatte gerade mit ihrer Tochter telefoniert. Sie setzte sich 6
an den Tisch, sann über ihren letzten Besuch in der Pension nach und ließ noch einmal die Bilder von dem langen Wochenende, das sie vor vielen Jahren dort verbracht hatte, vorüberziehen. Trotz allem, was sich seitdem ereignet hatte, hielt Adrienne an ihrer Überzeugung fest, dass es allein die Liebe war, die das Leben so wunderbar machte.
Draußen fiel Regen. Adrienne lauschte dem gleichmäßigen Geräusch und war dankbar für das Gefühl von Beständigkeit und Vertrautheit, das es ihr gab. Die Erinnerung an jene Tage weckte jedes Mal die unterschiedlichsten Empfindungen in ihr
– so etwas Ähnliches wie Wehmut oder Nostalgie, aber das war es nicht allein. Wehmütige Gefühle stellten häufig die Vergangenheit in einem verklärten Licht dar, doch es gab keinen Grund, die Erinnerungen zu verklären. Adrienne teilte sie mit niemandem. Die Erinnerungen gehörten ihr, und im Laufe der Jahre waren sie ihr zu einer Art Museum geworden, in dem sie sowohl die Kuratorin als auch die einzige Besucherin war. Und in gewisser Hinsicht war Adrienne zu der Überzeugung gelangt, dass sie in den fünf Tagen damals mehr gelernt hatte als in all den Jahren davor oder danach.
Sie lebte allein. Ihre Kinder waren erwachsen, ihr Vater war 1996 gestorben, und Jack und sie waren seit siebzehn Jahren geschieden. Ihre Söhne bedrängten sie manchmal, sich einen neuen Partner zu suchen, aber Adrienne verspürte kein Verlangen danach. Nicht, dass sie mit Männern nichts mehr zu tun haben wollte – ganz im Gegenteil, gelegentlich merkte sie, dass sie sich von jüngeren Männern angezogen fühlte, zum Beispiel, wenn ihr im Supermarkt jemand über den Weg lief.
Da manche dieser Männer nur wenige Jahre älter waren als ihre eigenen Kinder, fragte sie sich, was sie wohl denken würden, wenn sie ihre Blicke bemerkten. Würden sie sich sofort abwenden? Oder würden sie ihr Lächeln erwidern und ihre interessierten Blicke reizvoll finden? Sie war sich nicht sicher.
Sie wusste natürlich auch nicht, ob diese Männer trotz der 7
ergrauenden Haare und der Falten erkennen konnten, wie sie früher einmal ausgesehen hatte.
Doch Adrienne bedauerte es keineswegs, dass sie älter wurde. Die Menschen sprachen fortwährend von dem Reiz der Jugend, aber sie sehnte sich nicht danach, wieder jung zu sein.
Mittleren Alters vielleicht, aber nicht jung. Sicher, manches vermisste sie: Sie würde gern immer noch die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinaufrennen oder mehrere Einkaufstaschen gleichzeitig tragen können, und sie hätte gern noch ausreichend Energie gehabt, um mit ihren Enkeln Schritt halten zu können. Doch letzten Endes waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatte, wertvoller, und die kamen nur mit dem Alter.
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