Der Sandmann
Gemüt. Niemand erinnerte ihn auch nur durch den leisesten Anklang an die Vergangenheit.
Nur, als Siegmund von ihm schied, sprach Nathanael: "Bei Gott Bruder! ich war auf schlimmen Wege, aber zu rechter Zeit leitete mich ein Engel auf den lichten Pfad! - Ach es war ja Clara!"
Siegmund ließ ihn nicht weiter reden, aus Besorgnis, tief verletzende Erinnerun-gen möchten ihm zu hell und flammend aufgehen.
Es war an der Zeit, daß die vier glücklichen Menschen nach dem Gütchen ziehen wollten. Zur Mittagsstunde gingen sie durch die Straßen der Stadt. Sie hatten manches eingekauft, der hohe Ratsturm warf seinen Riesenschatten über den Markt.
"Ei!" sagte Clara: "steigen wir doch noch einmal herauf und schauen in das ferne Gebirge hinein!"
Gesagt, getan! Beide, Nathanael und Clara, stiegen herauf, die Mutter ging mit der Dienstmagd nach Hause, und Lothar, nicht geneigt, die vielen Stufen zu er-klettern, wollte unten warten. Da standen die beiden Liebenden Arm in Arm auf der höchsten Galerie des Turmes und schauten hinein in die duftigen Waldun-gen, hinter denen das blaue Gebirge, wie eine Riesenstadt, sich erhob.
"Sieh doch den sonderbaren kleinen grauen Busch, der ordentlich auf uns los zu schreiten scheint", frug Clara.
Nathanael faßte mechanisch nach der Seitentasche; er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts - Clara stand vor dem Glase! - Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern - totenbleich starrte er Clara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, gräßlich brüllte er auf, wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte und grausig dazwischen lachend schrie er in schneidendem Ton: "Holzpüppchen dreh dich - Holzpüppchen dreh dich" - und mit gewaltiger Kraft faßte er Clara und wollte sie herabschleu-dern, aber Clara krallte sich in verzweifelnder Todesangst fest an das Geländer.
Lothar hörte den Rasenden toben, er hörte Claras Angstgeschrei, gräßliche Ahnung durchflog ihn, er rannte herauf, die Tür der zweiten Treppe war verschlossen - stärker hallte Claras Jammergeschrei. Unsinnig vor Wut und Angst stieß er gegen die Tür, die endlich aufsprang - Matter und matter wurden nun Claras Laute: " Hülfe - rettet - rettet -" so erstarb die Stimme in den Lüften.
"Sie ist hin - ermordet von dem Rasenden", so schrie Lothar.
Auch die Tür zur Galerie war zugeschlagen. - Die Verzweiflung gab ihm Rie-senkraft, er sprengte die Tür aus den Angeln. Gott im Himmel - Clara schwebte von dem rasenden Nathanael erfaßt über der Galerie in den Lüften - nur mit einer Hand hatte sie noch die Eisenstäbe umklammert. Rasch wie der Blitz erfaßte Lothar die Schwester, zog sie hinein, und schlug im demselben Augenblick mit geballter Faust dem Wütenden ins Gesicht, daß er zurückprallte und die Todes-beute fallen ließ.
Lothar rannte herab, die ohnmächtige Schwester in den Armen. - Sie war gerettet. - Nun raste Nathanael herum auf der Galerie und sprang hoch in die Lüfte und schrie "Feuerkreis dreh dich - Feuerkreis dreh dich."
Die Menschen liefen auf das wilde Geschrei zusammen; unter ihnen ragte rie-sengroß der Advokat Coppelius hervor, der eben in die Stadt gekommen und gerades Weges nach dem Markt geschritten war. Man wollte herauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, da lachte Coppelius sprechend: "Ha ha - wartet nur, der kommt schon herunter von selbst", und schaute wie die übrigen hinauf.
Nathanael blieb plötzlich wie erstarrt stehen, er bückte sich herab, wurde den Coppelius gewahr und mit dem gellenden Schrei: "Ha! Sköne Oke - Sköne Oke", sprang er über das Geländer.
Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem, Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden.
Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern le-benslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können.
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