Der Schachspieler
kommt.«
»Haben Sie oft mit ihm gesprochen?«
»Nur das eine Mal, Detective. Um ehrlich zu sein, er tat ja keinem weh, und ich wollte mich nicht noch mal vollsabbern lassen, also ließ ich ihn einfach in Ruhe, wenn er vorbeikam und durchs Fenster reinguckte oder bei den Aufzügen rumspielte. Ich glaube, die anderen haben’s genauso gemacht. Er tat uns irgendwie leid, wissen Sie.«
»Er hat bei den Aufzügen rumgespielt?«
»Ja, manchmal drückte er auf die Knöpfe, ging rein und raus. Er hat ja keinem was getan, und um diese späte Uhrzeit hätte er eine Karte gebraucht, um wirklich den Aufzug in Gang zu bekommen.«
Heath und Detective Pearl konnten die wenigen Personen ausfindig machen, die außer dem Unbekannten auf den Aufnahmen dieses Abends zu sehen waren, doch der Junge ließ sich nicht wieder blicken. Die Busfahrer auf dieser Strecke erinnerten sich nicht an einen geistig behinderten hinkenden Mann mit einer Nationals-Baseballkappe. Pearl schickte seine Leute zu allen Restaurants im Umkreis von sechs Blocks, doch in keinem arbeitete ein Mann, auf den die Beschreibung passte, als Küchenhilfe oder Tellersammler.
Cady lehnte sich in seinem Hotelstuhl zurück, schloss die Augen und stellte sich Sanfield an jenem Abend vor: allein in seinem Büro, vielleicht schon kurz davor, für heute Schluss zu machen, als er eine merkwürdige Stimme vom Flur hört. Er schaut auf und sieht einen geistig behinderten jungen Mann mit einer Baseballkappe in der Tür stehen. Der Typ trägt Latexhandschuhe – der Rechtsmediziner hatte Spuren von Maisstärkepulver im Blut auf Sanfields Hemd gefunden – und murmelt vielleicht irgendetwas Unverständliches über den Abfalleimer im Büro. Sanfield sagt dem Kerl, dass die Papierkörbe schon vor einer Stunde geleert wurden. Doch der Junge hinkt auf den Schreibtisch zu, um selbst nachzusehen. Sanfield fühlt sich noch nicht bedroht. Wie den meisten Leuten ist ihm der Kontakt mit einem Behinderten ein bisschen unangenehm, doch er hat keine Angst vor ihm. Der Typ geht an Sanfields Papierkorb vorbei, plötzlich ohne zu hinken und mit einem Messer in der Hand. Jetzt steht Sanfield auf, um sich gegen den Angreifer zu wehren, doch es ist schon zu spät. Viel zu spät für Sanfield. Vielleicht ist der letzte Gedanke des Anwalts: Mein Gott, jetzt bringt mich dieser Mongo um …
Cady machte sich eine Notiz, morgen Detective Pearl anzurufen, einen kleingewachsenen Mann, nicht viel mehr als eins sechzig groß, mit buschigem grauem Haar. Was ihm an Körpergröße fehlte, machte Pearl mit seinem Intellekt mehr als wett. Cady erinnerte sich noch gut an ihr letztes Gespräch vor drei Jahren.
»Der Typ wird verdammt schwer zu fassen sein«, hatte der Inspektor der Mordkommission gemeint.
»Warum?«
»Der Fall ist ein typisches Locked-Room-Mystery, wie es Edgar Allan Poe nicht besser hätte schreiben können. Wenn ich einen Typen in einem so gut gesicherten Haus ausknipsen wollte, in dem es von Wächtern nur so wimmelt«, sagte Pearl, »dann hätte ich es genauso gemacht.«
3
D ie erste E-Mail von Richard Gere landete sofort in Stouders Papierkorb. Im »Betreff« stand da: Ich kenne Ihr Geheimnis , doch es folgte kein Text. Der Absender hatte sich mit einem kleinen Trick beholfen, um den Namen des Filmstars für sich zu beanspruchen: Er hatte im Vornamen ein zweites »A« eingefügt. Stouder zögerte jedenfalls keinen Augenblick: Die Nachricht teilte das Schicksal der Mails, in denen Viagra und anderes Zeug angeboten wurde.
Die zweite E-Mail von Richard Gere – oder vielmehr Richaard Gere – wies einen geringfügigen Unterschied in der Betreffzeile auf. Doch dieser kleine Unterschied jagte Stouder einen eiskalten Schauer über den Rücken. Die zweite Nachricht lautete: Ich kenne Stouders Geheimnis , darunter der Satz: Wir unterhalten uns bald .
Obwohl er sich in seinem sicheren Zuhause in der geschlossenen Wohnanlage von Bedford Village befand, sah sich Stouder argwöhnisch um, als könnte ihm jemand über die Schulter blicken. Er ging nach unten, um nachzusehen, ob die Haustür abgeschlossen war. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass an allen Fenstern die Jalousien unten waren, schenkte er sich in der Küche ein zweites Glas Merlot ein. Er ballte seine Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken.
Ich kenne Stouders Geheimnis … Wir unterhalten uns bald .
Was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, war die Tatsache, dass er diese E-Mail nicht über seinen
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