Der Schatten im Norden
« »Was soll ich nun
tun?«, fragte sie hilflos.
»Wahrhaftig, ich weiß es nicht. Die Antwort fällt
wirklich schwer. Los, Sackville, mach das Feuer an. «
»Nein!«, schrie Mrs. Elphick, doch schreckte sie
zurück, sobald Harris ihr mit dem Stock drohte. Sie legte
sich die Hand über den Mund, als Sackville einen Zipfel
des Wäschebergs, den er in den Kamin gestopft hatte, mit
dem Streichholz entzündete. Sogleich schlugen Flammen
den Kamin hinauf. Isabel, immer noch das Kästchen an
sich gepresst, weinte wie ein Kind und wiegte sich
verzweifelt hin und her. Mr. Harris strich ihr übers Haar.
»Alles halb so schlimm«, sagte er nur. »Lassen Sie es
sich eine Lehre sein: Freie niemals einen Schotten, denn
auf die ist kein Verlass. Komm, Sackville, die Damen
wollen sich um das Feuer kümmern, da würden wir nur
im Weg stehen, das wäre nicht fein. Einen schönen Tag
wünschen wir noch. «
DIE VERSENKUNG
Am folgenden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, warf
eine Hand eine eilig geschriebene Nachricht durch den
Briefschlitz in der Burton Street 45, und eine
verschleierte Gestalt stahl sich im Dämmerlicht davon.
Jim fand den Zettel als Erster. Er hatte nicht gut
geschlafen. Bilder von Lady Mary hatten ihm keine Ruhe
gelassen, und mehr als einmal hatte er laut gestöhnt beim
Gedanken an ihre korallenroten Wangen, wolkengrauen
Augen und ihr drängendes Flüstern... Schließlich hatte er
sich damit abgefunden, dass ihm kein Schlaf mehr
beschieden war. Er schleppte sich gähnend, fluchend und
sich kratzend in die Küche und machte Feuer, um sich
einen Tee zu bereiten.
Er stellte gerade den Kessel auf den Kamineinsatz, als
er die Klappe des Briefschlitzes im Laden schnappen
hörte. Er schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims, nicht
einmal sechs. Den Kragen seines Morgenmantels
hochgeschlagen, ging er durch den zugigen
Verkaufsraum und sah einen weißen Zettel in der
Dämmerung leuchten. Er zog die Markise hoch und las:
>Für Mr. Taylor
Mr. Mackinnon ist in großer Gefahr. Zwei Männer
wollen ihm heute Abend in der Royal Music-Hall in High
Holborn auflauern. Der eine der beiden heißt Sackville.
Wenn es irgend geht, helfen Sie ihm bitte. Niemand sonst
kommt in Frage, und ich selbst kann nichts für ihn tun. I.
M. <
I. M. ?... Das konnte nur Isabel Meredith sein. Jim griff
nach dem Haustürschlüssel am Schlüsselbrett, machte die
Tür auf und lief auf die stille Straße hinaus. Die
Gaslaternen brannten noch im Morgennebel, es wurde
langsam hell. Obgleich er gedämpften Hufschlag und
Rädergedröhn aus einer Seitenstraße hörte, war doch
niemand zu sehen und nichts verriet, in welche Richtung
sie davongeeilt war.
Sally hatte Axel Bellmanns Drohung nicht vergessen.
Jedes Mal, wenn sie in ihr Büro ging, dachte sie daran,
dass es viele Angestellte im Gebäude gab, die ihr
Kommen und Gehen beobachteten. Im Erdgeschoss war
der Büroleiter des Hausbesitzers, dem sie die Miete
bezahlte. Ferner gab es ein kleines Importgeschäft
(Korinthen, Datteln und Tabak aus der Türkei) im Büro
nebenan, mit dem sie einen Kohlenvorrat teilte --- und
jeder konnte für Bellmann arbeiten. Sie hatte sogar kurz
erwogen, ob sie zum Schutz ihres guten Rufs nicht eine
unbescholtene Frau im Büro anstellen sollte. Aber dann
hätte sie auch eine Beschäftigung für sie finden und sie
dafür bezahlen müssen, und dafür hatte sie eigentlich
kein Geld. Schließlich hatte sie sich entschlossen, die
Drohung nicht zu beachten und so weiterzumachen wie
bisher. Dennoch war sie jedes Mal froh, eine Frau und
keinen Mann vor ihrem Büro anzutreffen, und für dieses
Gefühl der Erleichterung, das ihre Schwäche verriet, war
sie sich selber böse.
Der Zufall wollte es, dass ihr erster Klient an diesem
Morgen eine Frau war. Es war eine aufgeweckte junge
Frau aus Lancashire, die nach London gekommen war,
um auf das Lehramt zu studieren. Sie suchte Rat, wie sie
die kleine Erbschaft von ihrem Großvater am besten
anlegen sollte. Nachdem Sally ihr verschiedene
Möglichkeiten aufgezählt und sie gemeinsam das Beste
ausgesucht hatten, sagte sie: »Ich war ja so überrascht,
dass sich hinter dem Namenszug S. Lockhart eine Frau
verbirgt. Ich meine, freudig überrascht. Wie haben Sie es
bloß geschafft, sich in dieser Branche zu etablieren?«
Sally erzählte es ihr, und dann fragte sie ihrerseits: »Und
woher kommen Sie, Miss Lewis?«
»Barrow-in-Furness«, sagte sie. »Aber ich wollte nicht
mein ganzes Leben in einem verlassenen Zipfel von
Lancashire
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