Der Schatten im Wasser
Erkältung.
»Micke«, sagte sie. Seinen Namen. Er warf einen Blick in ihre Richtung, antwortete aber nicht.
»Sind wir nun sozusagen quitt?«
»Was zum Teufel sagst du da?«
Sie gab ein Schniefen von sich.
»Nein … nichts. Aber dennoch, viel Glück.«
Er hielt die Luft an.
»Wofür?«
»Für die Sache mit dem Reisebüro. Das war ernst gemeint.«
»Geh«, rief er. »Geh, bevor ich es mir anders überlege.«
SIE RANNTE DEN KIESWEG entlang und die schlammige Böschung hinauf. Lief dann auf dem Bürgersteig weiter, wie gehetzt, ohne anzuhalten. Der Regen prasselte auf den Asphalt. Sie hatte kein Geld und keine Schlüssel bei sich. Nichts dergleichen hatte sie mitgenommen, als er sie abholte. Was sollte sie nur tun? Sie war vollkommen benebelt im Kopf, als rannte sie in einem Traum oder bewegte sich im Wasser.
Sie kam auf den Drottningholmsväg und sah, wie eine U-Bahn gerade die Station Abrahamsberg verließ. Nicht einmal Geld für die U-Bahn hatte sie bei sich. Wie spät mochte es wohl sein? Wie lange war sie in dieser Hütte gefangen gehalten worden? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. War es schon Nacht?
Wenn sie doch nur ihr Handy bei sich gehabt hätte. Dann hätte sie jetzt Hans Peter anrufen können, und er wäre sofort gekommen und hätte sie geholt, wo auch immer er sich gerade befand. Sie suchte unter einer Brücke Schutz und versuchte sich zu besinnen. In ihren Lungen brannte es wie Feuer.
Und wenn er ihr nun gefolgt war! Sie hätte besser nichts sagen sollen, bevor sie ging. Ihre Worte hatten ihn wahrscheinlich nur unnötig gereizt. Wenn er nicht bereits auf dem Weg war, um sie zurückzuholen! Sie blickte sich nervös um, doch bei diesem Wetter schien sich keine Menschenseele draußen aufzuhalten, keiner außer ihr und ein paar vereinzelten Autofahrern.
Ein Taxi. Das war die einzige Möglichkeit. Ein Taxi, das sie nach Hause fahren und warten würde, bis sie drinnen Geld geholt hätte.
Aber wenn Hans Peter nicht zu Hause und die Tür abgeschlossen war? Dann kam sie nicht herein.
Nach einer Weile stellte sie sich an den Straßenrand und wartete. Ein Taxi kam in ihre Richtung gefahren, und sie winkte es heran. Der Fahrer beäugte sie misstrauisch.
»Ich möchte nach Hasselby raus«, brachte sie hervor. »Können Sie mich dorthin fahren?«
Der Mann hatte einen stoppeligen Bart, unter dem sich ein kleiner spitzer Mund verbarg. Er schaute sie ausdruckslos an.
»Können Sie das?«, fragte sie erneut.
»Bei manchen Fahrgästen kassiere ich im Voraus«, antwortete er gedehnt.
Sie schniefte.
»Aber ich bin ausgeraubt worden!«
»Wie bitte?«
»Ich kann erst bezahlen, wenn wir da sind.«
»Was zum Teufel sagen Sie, Sie sind ausgeraubt worden?«
»Ja!«, schrie sie.
»Also okay.« Er machte eine Geste in Richtung des Rücksitzes, woraufhin sie einstieg.
Es roch angenehm neu im Auto, und es war warm. Im Radio lief Popmusik. Ihre Kleidung hinterließ feuchte Abdrücke auf dem Sitz. Sie sah seine Augen im Rückspiegel. Er drehte die Musik leiser, aber stellte sie nicht ganz ab.
»Sie sind also ausgeraubt worden, sagen Sie?«
»Ja.«
»Eben? Gerade eben?«
»Vor einer Weile.«
»Ist das wahr?«
»Ja.« Sie biss die Zähne zusammen, sodass es im Kiefer schmerzte.
»Wie ist das denn nur passiert?«, fragte er.
»Ich weiß nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Ich bekam einen Stoß in den Rücken, sodass ich hinfiel. Und dann war die Tasche weg.«
»Haben Sie denn niemanden gesehen?«
»Nein.«
»Sie müssen die Polizei benachrichtigen. Soll ich Sie zur Wache fahren?«
»Nein. Ich will zuerst nach Hause. Nach Hause zu meinem Mann.«
»Sie haben also keine Ahnung, wer es war?«
»Ein ziemlich junger Typ. Oder, ich weiß nicht.«
»Sind Sie verletzt?«
»Eher geschockt, würde ich sagen. Aber es geht schon.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Schweden ist dabei, sich in ein vollkommen gesetzloses Land zu verwandeln«, stellte er wütend fest. »Die Leute haben kein Ehrgefühl mehr. Keine Moral.«
»Nein«, entgegnete sie müde. »So ist es.«
Als sie auf das Grundstück fuhren, sah sie im Haus Licht brennen. Sie empfand Erleichterung. Hans Peter stand auf der Außentreppe, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengezogen.
»Justine, du darfst mir nie wieder so einen Schrecken einjagen! Sonst verlasse ich dich.«
»Verzeih mir«, flüsterte sie. »Kannst du das Taxi bezahlen?«
Der Fahrer streckte den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster.
»Sie behauptet,
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