Der Schatten im Wasser
dass sie ausgeraubt worden ist«, sagte er. »Ich habe ihr angeboten, sie zur Polizei zu fahren, aber sie wollte nicht.«
Schon im Flur merkte sie, dass sie Besuch hatten. Sie ging die Treppe hinauf und erblickte Ariadne sowie ein groß gewachsenes Mädchen im Teenageralter, das ihr ähnelte. Das Mädchen saß nach hinten gelehnt und stützte ihr eines Handgelenk mit der anderen, freien Hand. Auf ihren kräftigen Fingerknöcheln hatte sich der Vogel niedergelassen.
Das Mädchen wandte den Kopf zur Tür. Ihre Augen schienen zu flackern und zu flimmern.
»Hallo«, grüßte sie unsicher.
»Hallo, Christa.«
»ist das dem Vogel?«
»Ja.«
»Er mag mich, er ist sofort zu mir geflogen.«
»Das sehe ich.«
»Justine ist draußen im Regen gewesen«, erklärte Ariadne. »Lass sie sich erst mal umziehen. Vielleicht könnt ihr euch danach unterhalten.« Sie ging auf Justine zu und umarmte sie flüchtig. Sie war leicht verlegen.
»Wie du siehst, haben wir euch mit unserem Besuch regelrecht überfallen«, entschuldigte sie sich.
»Nein, so ist es doch nicht.«
»Ich werde dir nie vergessen, was du an diesem Morgen im Hotel gesagt hast. Es hat mir sehr geholfen.«
Justine nickte. Ariadne sah ihr direkt in die Augen.
»Das … du weißt schon«, sagte sie. »Und das andere. Das ist jetzt vorbei, es ist vorbei.«
»Ich weiß.«
»Ich wollte mich nur bei dir bedanken, dass du mich unterstützt hast.«
Der Vogel schlug mit seinen Flügeln und machte Krach. Dann hüpfte er geradewegs auf Christas Kopf. Sie lachte vergnügt.
»Aah, wie das kitzelt.«
»Er mag es gerne, bei jemandem im Haar zu sitzen«, erklärte Justine. »Ich glaube, er genießt das Gefühl an seinen Krallen.«
»Warum hat er eigentlich keinen Namen?«, fragte das Mädchen.
»Das hat sich einfach nicht ergeben.«
»Ist dir etwa kein passender Name eingefallen?«
»Nein. In der Tat nicht.«
»Ich … ich hätte zwei Namen für ihn, obwohl der eine vielleicht nicht so gut ist, Mama sagt, dass eine Staubsaugerfirma so heißt.«
»Und welche Namen sind das? Sagst du sie mir?«
Christa streckte ihre Hand aus und strich dem Vogel vorsichtig über den Bauch. Er gurrte zufrieden.
»Hugin oder Munin. In diesem Fall wohl eher Munin. Aber vielleicht gefällt dir der Name ja gar nicht.«
Justine ging zum Kachelofen, in dem Hans Peter ein Feuer gemacht hatte, und stellte sich davor. Sie breitete ihre Arme aus und lehnte ihren Rücken gegen die warmen Kacheln. Ihr Kopf entspannte sich nach und nach.
»Munin?«, wiederholte sie nachdenklich. »Ja, warum eigentlich nicht?«
DER WIND BEGANN ein wenig abzuflauen, die Luft war jetzt klar und frisch. Draußen im Lövstabad waren die Umkleideräume zum Saisonende hin verriegelt und mit Vorhängeschlössern versehen worden. Die Fensterläden des Kiosks waren zugenagelt. Die Bootsstege hatte man an Land gezogen, wo jetzt eine Schar von Kanadagänsen lagerte, die mit erregtem Schnattern umherwatschelten. Zwischen den Steinen lag ein kaputter Ball, schwer vom Sand und der Nässe. Tor versetzte ihm einen Fußtritt. In der Grube, in der er gelegen hatte, suchten jetzt kleine Insekten das Weite.
Er blieb stehen und wartete auf Jill. Er hatte es ziemlich eilig gehabt herzukommen. Doch jetzt ergriff ihn eine plötzliche Scheu.
Nachdem sie eine Weile gesucht hatten, fanden sie den Baum. Es war eine hohe alte Erle mit einem mächtigen Stamm. Ihre Wurzeln verzweigten sich im Wasser und bildeten einen Hohlraum, der die Form eines Herzens hatte und durchaus Platz für einen menschlichen Körper bot. Oder das, was von einem Menschen übrig geblieben war.
Ja, wie in einer Umarmung, dachte er und war sich immer noch nicht im Klaren darüber, ob die Polizistin Mary sich so ausgedrückt hatte oder ob die Worte seiner Fantasie entsprungen waren. Er kniete sich in den feuchten Sand und suchte ihn nach Spuren ab. Doch wenn es tatsächlich Spuren gegeben hätte, dann würde das Wasser sie längst getilgt, sie überspült und schließlich eingeebnet haben. Er formte seine Hände zu einer Schale und schöpfte ein wenig Wasser, die Tropfen rannen durch seine Finger und versickerten im Boden.
Als sie aus dem Auto stiegen, hatten sie Glockenblumen am Wegesrand gefunden. Sie wuchsen dort üppig und waren hoch aufgeschossen, eine Sorte, die den Herbst übersteht und bis spät in den Oktober hinein blüht. Jill pflückte einige und brach einen Zweig leuchtender Hagebutten ab. Es wurde ein schlichter Strauß. Sie band ihn mit einem
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