Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
1. Kapitel
Genau in dem Moment, als die mächtigen Mauern der weitläufigen Klosteranlage vor ihm aus dem Nebel auftauchten, begann der Hund zu bellen. Erschrocken blieb Martin Reisinger stehen, starrte auf das heftig an der Leine zerrende Tier. Der Retriever streckte den Kopf in die Höhe, sog die Witterung heftig schnuppernd in die Nase. Irgendein verspäteter Hase, überlegte er, oder ein anderes Wild, das es versäumt hat, sich rechtzeitig zum Einbruch der Dämmerung in seinen Bau zurückzuziehen. Er lockerte den Druck der Leine, sah, wie der Hund nach vorne schoss.
Die Bäume der schmalen, alten Lindenallee, der er wie fast jeden Abend um diese Zeit in sanftem Anstieg nach oben folgte, hatten in den heftigen Windböen der vergangenen Wochen auch die letzten Blätter verloren. Schemenhaft, wie dürre Gespenster, ragten sie in den nur noch spärlich von den letzten Strahlen des verlöschenden Tages beleuchteten Himmel, das mächtige Mauerwerk der Comburg über sich. Reisinger sah die roten Ziegeldächer der Alten und der Neuen Dekanei sowie des Wamboldbaus weit über den Befestigungswall ragen, erspähte die drei schlanken spätromanischen Glockentürme hoch über der gesamten Anlage. Der gewaltige Bau der Klosterkirche schien wie ein gigantisches Luftschiff über der burgähnlichen Festung zu schweben.
Wann immer er aus dem Tal zur Comburg hoch blickte, glaubte sich Reisinger ins späte Mittelalter versetzt. Der weitläufige, sich vollständig über die Anhöhe hinweg erstreckende Gebäudekomplex beherrschte die gesamte Umgebung. Eingerahmt von der mit einem außerordentlich gut erhaltenen hölzernen Wehrgang und mehreren anmutigen runden Türmchen gekrönten, fast fünfhundert Meter langen mächtigen Mauer, erweckte das schon seit dem 11. Jahrhundert als Kloster genutzte Ensemble unweigerlich den Eindruck einer gewaltigen Burg. Erst Wochen, nachdem er mitsamt seiner Familie der günstigen Immobilienpreise und der guten Zugverbindung wegen vor wenigen Jahren von Stuttgart in den Schwäbisch Haller Vorort Hessental umgezogen war, hatte Reisinger sich bei einer ausführlichen Besichtigung davon überzeugt, dass es sich bei der Comburg um eine der bedeutendsten romanischen Sakralanlagen des ganzen Landes handelte. Staunend hatte er das Stiftstor durchschritten und das wuchtige Mauerwerk mit der von ihrem blanken Hintern geprägten Figur des Lecksfidle passiert, einem Stein gewordenen Symbol, das in vergangenen Jahrhunderten der Abwehr alles Bösen gedient hatte. Er hatte die Anmut des mit kleinen Türmchen und Säulen verzierten inneren Tores bewundert, war in den Kopfsteinpflastergassen des weitläufigen Klosters herumgeschlendert, von der Vielzahl und dem Charme der alten Gebäude überrascht. Der Ausblick vom Wehrgang der Mauer auf die ländliche Umgebung sowie die nahe gelegene Altstadt-Silhouette Schwäbisch Halls boten überwältigende Panoramen. Zu guter Letzt hatte er der Kirche einen Besuch abgestattet, deren von romanischen Strukturen geprägter Bau einen barocken, von schlanken Sandsteinsäulen charakterisierten Innenraum mit einem weithin berühmten, von der Decke hängenden romanischen Radleuchter und eine kunstvoll emaillierte und vergoldete Altarvorderseite präsentierte.
Fasziniert vom Flair des heute als Lehrerfortbildungsakademie genutzten ehemaligen Benediktinerklosters war er nun bestrebt, dem immensen Bewegungsdrang seines Vierbeiners täglich durch einen abendlichen Spaziergang von der neuen Wohnung zur mittelalterlichen Festung nachzukommen, eine Affäre von nicht einmal fünfzehn Minuten. Er pflegte von Hessental nach Steinbach hinunterzulaufen, dann über die alte Lindenallee wieder die notwendige Höhe zu gewinnen. Den gemächlich neben sich her trabenden Hund an der Seite hatte er es sich angewöhnt, das Stiftstor zu passieren und der Pflastersteingasse bis zur anmutigen sechseckigen Kapelle unmittelbar vor der Neuen Dekanei zu folgen, dort die Treppe hochzusteigen und eine Weile zwischen den alten Gebäuden umherzuschlendern, ehe ihn die wachsende Unruhe seines Hundes wieder zur Rückkehr zwang.
Das Gebell des Retrievers riss ihn aus seinen Gedanken. Reisinger starrte in die Höhe, sah die Silhouette der Festung über sich, die schlanken Stämme der Bäume, und … leider … das an seiner Leine zerrende Tier. »Toni, lass doch den Hasen in Ruhe«, versuchte er, diesen zu beschwichtigen, »der hat sich etwas verspätet und sucht jetzt sein Nachtquartier.« Er bückte sich, fuhr dem
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