Der Schattengaenger
beschrieb, der ihr vorschwebte, hatte Merle das Gefühl, den Mann von irgendwoher zu kennen. Manuel Grafen, so hatte er sich vorgestellt. Merle wusste genau, sie hatte diesen Namen nie zuvor gehört. Sie hatte diesem Mann nie zuvor die Hand geschüttelt.
Dennoch musste sie ihm schon begegnet sein.
Langsam, altes Mädchen, dachte sie. An so einen Typen würdest du dich garantiert erinnern. Aber sie wurde ihre Irritation nicht los.
Das Mädchen mit den roten Haaren ließ ihn nicht aus den Augen. Manuel war sich dessen durchaus bewusst. Aber sie konnte ihn nicht einordnen. Seine Kapuze und die Sonnenbrille hatten ihn gestern im Supermarkt gut geschützt, da war er sich sicher. Vorsichtshalber hatte er seine Stimme verstellt, als er sich entschuldigt hatte, aber sie war so in Eile gewesen, dass sie alles geschluckt hätte, ohne Verdacht zu schöpfen.
Jetzt sah sie ihn richtig. Und sie fuhr auf ihn ab.
Er wusste, welche Wirkung er auf Frauen hatte. Es war fast schon unheimlich. Er konnte sie lenken, wie er wollte, mit einem einzigen Blick, einer einzigen Geste.
Zauberer hatte ihn eines seiner Mädchen einmal genannt.
Hokuspokus. Es war so simpel.
Sie waren so leicht zufriedenzustellen. Er schaute sich ihre Träume an und ließ sie wahr werden, wenigstens einen Teil davon. Dazu gehörte nicht viel. Eine Berührung, ein Wort, ein Kuss.
Aber sie ließen ihn kalt. Sein Herzschlag blieb immer gleich. Nur eine brachte sein Blut in Wallung. Und ausgerechnet diese eine war unerreichbar für ihn.
Wo bist du?, dachte er, während er ihrer Tochter die Wagen zeigte. Wo hast du dich verkrochen? Muss ich dich wirklich zwingen, zu mir zurückzukommen?
Kapitel 22
»Ich liebe Brainstorming«, sagte Isa, als sie das Büro betrat. »Vor allem am Samstag. Wochenenden sind tödlich für Singles, das kannst du mir glauben.«
Bert stellte fest, dass er sie noch nie nach ihrem Privatleben gefragt hatte. Er schämte sich dafür, denn umgekehrt war sie ziemlich genau über seines informiert. Er öffnete den Mund, doch sie kam ihm zuvor.
»Versteh mich nicht falsch. Alles ist wunderbar. Bis auf die Wochenenden eben und Weihnachten und Ostern sind auch nicht gerade Freudenfeste. Dabei sollten Psychologen ihr Leben doch geregelt kriegen, findest du nicht?«
»Eine Ehe bedeutet nicht zwangsläufig, dass man auf ewig glück…«
»Ich weiß, ich weiß. Aber es gibt nichts Hartnäckigeres als Illusionen und manche bleiben für immer an dir kleben.« Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihn erwartungsvoll an. »Und was hat dich hierhergetrieben?«
»Die Aussicht, ungestört nachdenken zu können.«
»Du bist gern in diesem Raum.«
»Manchmal. Ja. Wenn sonst keiner im Haus ist.«
»Das hat sich bereits herumgesprochen.«
Sie erwiderte seinen verwunderten Blick voller Wärme. Wahrscheinlich wusste längst jeder Kollege Bescheid. Glücklich verheirateten Menschen war ihr Büro keine Zuflucht. Die verbrachten ihre Freizeit auf andere Weise.
»Die Welt ist ein Dorf«, philosophierte er und merkte, wie er sich in Isas Gegenwart entspannte. »Sprichst du noch einmal mit mir die Fakten im Fall Thalheim durch?«
Fakten. Fall. Thalheim. Wie gut es tat, sich für einen Moment mit knappen Begriffen zu distanzieren. Bald darauf saßen sie bei ihrem zweiten Kaffee. Die Sonne schien ins Zimmer und sie streckten die Beine aus, lehnten sich zurück und waren wieder ganz sie selbst.
»Was will er?«, fragte Bert.
»Kontrolle«, sagte Isa.
»Wie weit wird er gehen?«
»Kein Stalker ist wie der andere, Bert. Der eine hat die Absicht, sein Opfer zu töten, der andere versetzt es nur in Angst und Schrecken.«
»Nur! Erzähl das mal den Opfern!«
Isa schaute aus dem Fenster, als sie weitersprach. »Es ist eine besonders subtile Form der Grausamkeit, denn das Opfer stirbt tausend Tode in der bloßen Erwartung, getötet zu werden.«
»Aber es gibt Stalker, die dann tatsächlich zu Mördern werden.«
»Wir alle können zu Mördern werden, Bert, jeder von uns. Und im Fall Imke Thalheim hat der Stalker ja bereits den ersten Mord begangen. An einem Außenstehenden.«
»Eine Zufallstat. Davon gehen wir doch aus oder hast du deine Meinung inzwischen geändert?«
»Nein. Regina Bergerhausens Tod war nicht geplant. Auf der Besetzungsliste dieses Beziehungsdramas kam sie mit Sicherheit überhaupt nicht vor.«
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auch … sein Opfer tötet?«
Isa beugte sich vor und ergriff über den Schreibtisch
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