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Der Schattengaenger

Der Schattengaenger

Titel: Der Schattengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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Nicht unmittelbar tödlich, eher eine schleichende, verzögerte Bedrohung.
    Noch einmal hörte Imke Tilos Nachrichten ab.
    Ich liebe dich.
    Wort gegen Wort.
    Heb es auf! Ich liebe dich. Heb es auf! Ich liebe …
    Warum war Tilo ausgerechnet heute nicht hier? Sie hätten darüber reden können. Die Dunkelheit vor den Fenstern wäre nicht so undurchdringlich gewesen. Und nicht so gefährlich. Vielleicht hätten sie irgendwann sogar lachen können. Tilo schaffte es immer, sie zum Lachen zu bringen, selbst in der ausweglosesten Situation.
    Imke putzte sich entschlossen die Nase, wischte sich die Tränen ab und wählte Tilos Nummer.
    Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zurzeit leider nicht erreichbar …
    Wie denn auch? Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte Imke, dass Tilo sich gerade mitten in seinem Vortrag befand. Sie wählte die Nummer ihrer Mutter. Nach dem siebten Klingeln fiel ihr ein, dass ihre Mutter ihr von einem geplanten Theaterbesuch erzählt hatte.
    Allein, dachte Imke. Ich bin vollkommen allein.
    Sie hätte es bei Jette versuchen können oder beim Kommissar, aber gerade bei diesen beiden wollte sie sich zurückhalten. Sie wollte wenigstens den Anschein von Stärke wahren und vielleicht gab ihr das ja tatsächlich ein wenig von der verlorenen Kraft zurück.
    Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er möglicherweise noch da draußen war.
    Sie saß viel zu nah am Fenster!
    Geduckt erhob sie sich von ihrem Schreibtischstuhl und zog sich ins Innere des Zimmers zurück. Sie löschte das Licht, sank auf dem Sofa nieder, kauerte sich an die Wand, umschlang die Knie mit den Armen und behielt das Fenster im Blick.
    Ein Wort von ihr, und der Kommissar wäre geblieben. Er hatte es ihr ja förmlich in den Mund gelegt. Nur ein einziges kleines Wort. Bitte.
    Sie schrieb lange genug Krimis, um zu wissen, dass Bert Melzig nichts in der Hand hatte, um in dieser Angelegenheit aktiv werden zu können. Angelegenheit, dachte sie. Mein Gott, was sind wir doch für hoffnungslose Bürokraten in diesem Land.
    Sie dachte an Silke, eine junge Frau, die eine Zeit lang ihre Putzhilfe gewesen war. Regelmäßig war Silke von ihrem drogensüchtigen Freund massiv unter Druck gesetzt und bedroht worden. Imke hatte ihr geraten, sich an die Polizei zu wenden, doch der zuständige Beamte hatte Silke wieder weggeschickt. Es müsse erst ein Angriff stattfinden, hatte er ihr erklärt, bevor die Polizei eingreifen könne.
    Imke hatte Silke eine kleine Wohnung vermittelt und die junge Frau war mit ihrem zweijährigen Sohn dort eingezogen. Nach ein paar Wochen hatte die Sehnsucht sie zu ihrem Freund zurückgetrieben. In der darauffolgenden Nacht hatte er sie im Streit erstochen (aufgeschlitzt nannte er es in der Gerichtsverhandlung, die er völlig unbeteiligt verfolgte). Der Junge in seinem Gitterbettchen hatte dabei zugesehen.
    Drei Jahre in psychiatrischer Verwahrung, hatte das Urteil gelautet, weil die Tat unter Drogeneinfluss ausgeführt worden war. Danach war der Täter wieder entlassen worden. Imke hatte ein Buch darüber geschrieben, wie als Entschuldigung dafür, dass sie Silke nicht hatte helfen können.
    Wie still es war. Wie einsam.
    Nichts anderes hatte Imke gewollt, als sie aufs Land gezogen war. Jetzt richtete es sich gegen sie.
    Die Zeit verging und Imke geriet in einen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Ihr Körper hatte sämtliche Funktionen heruntergefahren, ihr Geist jedoch war scharf und klar. Als das Telefon läutete, konnte sie sich zunächst nicht bewegen. Es war, als wäre sie in der so lange eingehaltenen Position erstarrt.
    Rufnummer unbekannt.
    Tilo, dachte sie. Vielleicht rief er vom Apparat des Veranstalters an. Mit einem Tastendruck nahm sie das Gespräch an und hielt den Hörer ans Ohr.
    »Ich liebe dich.«
    Das Flüstern gehörte nicht Tilo.
    »Sehr.«
    Imke drückte das Gespräch weg und presste die Lippen zusammen, um nicht zu schreien.
     
    Der Vortrag war ein Erfolg gewesen. Das Thema Dissoziative Identitätsstörung polarisierte, daran war Tilo gewöhnt, doch die Skepsis mancher Zuhörer war angesichts der Fakten von Satz zu Satz mehr dahingeschmolzen. Minas Fall machte Eindruck. Es schien an dem Mädchen selbst zu liegen, an ihrer bewundernswerten Stärke, ihrem Charakter, ihrer Intelligenz, vor allem jedoch an ihrem Mut, sich offen als Multiple zu bekennen.
    Tilo hatte noch mit den Veranstaltern und einigen Kollegen zu Abend gegessen, aber er hatte sich nur mit Mühe auf die Gespräche konzentrieren können.

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