Der Schattengaenger
meine Freundin. »Hab Geduld mit mir.«
Und dann kamen sie doch, die Tränen, und ich ließ ihnen freien Lauf.
Der Notarzt war wieder in der Nacht verschwunden und Imke saß an Tilos Bett und hielt Wache. Mit dem Verband um den Kopf sah Tilo aus wie eine Mumie. Er war bleich und erschöpft, aber wenigstens hatten die Schmerzen nach der Spritze, die ihm der Arzt gegeben hatte, nachgelassen, sodass er sich allmählich entspannte.
»Es tut mir so leid«, sagte Imke und streichelte seine Hand, die kühl und schwer in ihrer lag. »Ich wollte, ich könnte es rückgängig machen.«
Tilo nickte vorsichtig. Er hatte bisher noch kaum ein Wort von sich gegeben.
»Ich habe wirklich geglaubt, du wärst dieser … Kerl.«
Tilo hustete und verzog gequält das Gesicht.
Imke hatte ihm alles erzählt, obwohl sie nicht sicher gewesen war, wie viel er davon mitbekommen hatte. Erst allmählich schien er seine Situation zu begreifen.
»Ich hätte dich doch nie …«
Tilo hob die Hand und berührte ihre Wange. Sie hielt seine Hand fest und küsste sie zärtlich und voller Bedauern.
»Das weiß ich doch«, krächzte Tilo, als hätte er bei dem Unfall nicht nur die Besinnung, sondern auch seine Stimme verloren.
Imke konnte das schreckliche Geräusch noch hören, mit dem die Kristallkaraffe auf seinen Kopf niedergesaust war, und sie wusste, sie würde es niemals vergessen. Erschüttert hatte sie in der Halle gestanden, den in sich zusammengesunkenen Tilo zu ihren Füßen, und hatte beobachtet, wie sich sein Haar am Hinterkopf rot gefärbt hatte.
Sie hatte seinen Namen gerufen, ihn geflüstert, geschluchzt. Hatte sich trotz der glitzernden Scherben neben seinen Kopf gekniet und sich nicht getraut, ihn zu berühren. Mit fliegenden Fingern hatte sie die Notrufnummer ins Telefon getippt, ihre Adresse angegeben, hinaus in die Dunkelheit gestarrt und gegen den Drang angekämpft, sich zu übergeben.
Tilo war genau auf der Türschwelle zusammengebrochen, und Imke hatte nicht gewagt, ihn ins Haus zu ziehen. Sie hatte ja nicht gewusst, wie schwer seine Verletzungen waren, vielleicht durfte er überhaupt nicht bewegt werden. Also hatte sie schnell das Licht gelöscht, sich neben ihn gekauert und Wache gehalten. Obwohl sie selbst schier verrückt gewesen war vor Angst.
Wenn dieser Mann noch da draußen ist, war es ihr durch den Kopf geschossen, dann hat er jetzt leichtes Spiel.
Die Haustür stand weit offen. Imke saß auf dem Silbertablett.
Nein, hatte sie gedacht. Bitte nicht!
Immer nur diese drei Worte. Wie eine Beschwörungsformel.
Nein. Bitte nicht. Nein. Bitte. Nicht.
Der Notarzt war nach zwanzig Minuten gekommen. Er hatte eine Gehirnerschütterung vermutet und Tilo ins Krankenhaus einweisen wollen, vorsichtshalber. Aber Tilo, der viel in Kliniken arbeitete, hatte selbst ein äußerst gestörtes Verhältnis zu Ärzten und Krankenhäusern. »Die behandeln eine Gehirnerschütterung auch nur mit Bettruhe und Handauflegen«, hatte er gewitzelt und sich stoisch geweigert.
Der Arzt hatte Imke geholfen, Tilo ins Schlafzimmer zu führen. »Ein harter Brocken«, hatte er beim Abschied zu ihr gesagt. »Sorgen Sie dafür, dass er sich in den nächsten Tagen röntgen lässt.«
Imke hatte ihm das versprochen.
»Oller Dickschädel«, sagte sie jetzt mit einem reumütigen Lächeln.
»Hätte ich keinen Dickschädel, dann wär ich jetzt vielleicht …«
Imke beugte sich vor und küsste Tilo auf den Mund. So lange, bis er anfing zu zappeln. Er schnappte nach Luft.
»Nachdem es dir nicht gelungen ist, mich zu erschlagen, willst du mich jetzt wohl ersticken!«
Sie lachten und Tilo fasste sich mit einem Schmerzenslaut an den Kopf. Imke fiel auf, dass sie schon eine ganze Weile nicht mehr an den Mann da draußen gedacht hatte. Dankbar legte sie den Kopf auf Tilos Brust. Sie spürte, wie sich sein Brustkorb unter ihrer Wange hob und senkte. Als wären sie an Bord eines Schiffes, irgendwohin unterwegs, wo ihnen niemand etwas tun konnte.
Er war durch die Nacht gelaufen wie betrunken. Das Erlebnis hatte ihm einen Adrenalinstoß verpasst, der jede Zelle seines Körpers in Aufruhr versetzt hatte. Wie nah er daran gewesen war, sie aus ihrer Höhle zu locken. Wie nah. Doch dann musste dieser Psychofuzzi auftauchen und alles verderben.
Wie konnte eine Frau wie Imke Thalheim bloß mit so einem Typen zusammenleben? Brauchte sie das? Einen Kerl, der ihr jede Regung auseinanderpflückte, jedes Gefühl erklärte?
Manuel stellte sich einen völlig
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