Der Schattengaenger
hatte das Gefühl, in dem schon einmal geträumten Traum festzustecken. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht denken und erst recht nicht sprechen. Etwas lähmte sie, und sie wusste nicht, was.
»Also dann.« Tilo fasste sie beim Arm und führte sie hinaus. »Sie rufen mich dann an, in Ordnung?«, sagte er über die Schulter.
Der Mann antwortete nicht. Vielleicht hatte er zu Tilos Worten genickt oder zur Bestätigung die Hand gehoben. Imke drehte sich nicht nach ihm um. Wieder nahm sie den Hauch von Parfüm wahr, bevor die Kälte draußen über ihnen zusammenschlug.
»Ist der immer so wortkarg?«, fragte sie, als sie ins Auto stiegen.
Tilo nickte.
»Scheint ansteckend zu sein«, spottete Imke.
Tilo rieb sich das Gesicht. »Lass uns nach Hause fahren.«
Nach Hause. Meine Frau.
Kurz sah Imke noch einmal Omar Sharifs Augen vor sich, dann hatte sie sie wieder vergessen. »Ja«, sagte sie. »Nach Hause.«
Kapitel 12
Meine Mutter hatte gepackt, aber sie reiste nicht ab. Sie schien die Hoffnung zu haben, dass der Stalker sich ein anderes Opfer gesucht hätte. Gegen jede Vernunft und gegen jede Erfahrung. Ein einziger Blick in die betreffenden Foren genügte, um zu wissen, dass ein Besessener das Objekt seiner Begierde niemals freiwillig aufgab.
Sie vermied das Thema, wenn wir miteinander telefonierten, und ich akzeptierte das. Ich wusste selbst nur zu gut, dass es Zeiten gibt, in denen Reden nicht hilft.
»Kann doch sein«, überlegte Merle laut, »dass der Typ einfach die Lust an seinen Spielchen verloren hat.«
»Das sind keine Spielchen«, widersprach ich ihr. »Das ist tödlicher Ernst. Dieser Mann ist gestört, Merle, und er hat sich in seinem Wahn auf meine Mutter fixiert. Mich beunruhigt seine Zurückhaltung eher. Als würde er seine Kraft für einen neuen Angriff sammeln.«
»Vielleicht macht er Urlaub?«
Es war Samstag, und wir waren seit dem frühen Morgen damit beschäftigt, die Küchenwände zu streichen. Die Tapeten hatten wir überall im Haus abgekratzt, die Löcher im Verputz zugeschmiert. Auf neue Tapeten hatten wir verzichtet. Die ganze Umzugsaktion würde sowieso noch teuer genug werden. Außerdem sahen gestrichene nackte Wände ein bisschen so aus, als lebte man in einem alten italienischen Kloster.
»Urlaub würde ihn bestimmt nicht davon abhalten, meiner Mutter seine kranken Botschaften zukommen zu lassen.«
»Wahrscheinlich nicht.« Merle trug aufgekrempelte Jeans und einen alten, schlabberigen Pulli, genau wie ich. Sie war von Kopf bis Fuß mit Farbe besprenkelt. »Übrigens«, sagte sie. »Was ist eigentlich mit Luke? Wollte er uns nicht heute helfen?«
»Es ist ihm was dazwischengekommen.«
»Lass mich raten. Arbeit?«
Immerzu kam Luke etwas dazwischen. Meistens hatte es mit seinem Studium zu tun oder mit einem seiner Jobs. Von denen hatte er offenbar eine ganze Menge, aber er erzählte so gut wie gar nicht davon, und ich wollte ihn nicht aushorchen.
»Und Claudio?«, fragte ich, um von Luke abzulenken. Außerdem gefiel mir der geringschätzige Unterton in Merles Stimme nicht. »Der wollte doch auch mit anfassen.«
»Kann nicht. Überraschender Besuch aus Sizilien. Onkel und Tante auf Deutschlandtournee. Er macht Sightseeing mit ihnen. Wahrscheinlich muss jede Kirche in einem Radius von dreißig Kilometern daran glauben. Seine Familie ist gnadenlos fromm.«
»Geschieht ihm recht.«
»Außerdem …« Merle tunkte den Farbroller in ihren Eimer und klatschte ihn dann wütend an die Wand »… außerdem ist das der mindestens achthundertvierundsiebzigste Versuch dieser gnadenlos frommen Familie, Claudio an seine Pflichten gegenüber seiner Verlobten zu erinnern.«
Wieder patschte sie den vollgesogenen Farbroller gegen die Wand. Ockerfarbene Spritzer verteilten sich explosionsartig in alle Richtungen, ockerfarbene Rinnsale liefen auf den Fußboden zu.
»Du sollst die Wand bloß streichen, Merle. Du sollst sie nicht ermorden.«
Die sizilianische Verlobte. Das hätte der Titel für einen Roman meiner Mutter sein können, aber er war traurige Wirklichkeit. Nach jedem Streit versprach Claudio Merle das Blaue vom Himmel, doch dann zeigte er wieder kein Rückgrat.
»Ich sollte Schluss machen.«
»Das schaffst du nicht.«
»Weiß ich selber.«
»Die Farbe muss für die gesamte Küche reichen«, sagte ich.
Merle betrachtete skeptisch den Eimer zu ihren Füßen. »Hätten wir nicht besser Sonnenblumengelb nehmen sollen?«
»Uns war nach Gutshof, erinnerst du dich?«
Weitere Kostenlose Bücher