Der Schattenprinz
trage? Das Blut des Bronzegrafen. Ich bin lange genug davongelaufen.«
»Arvan?«
»Ja.«
Tenaka legte dem jungen Mann die Hände auf die Schultern. »Ich habe mich oft gefragt, was aus dir geworden ist.«
»Ceska befahl, mich zu erschlagen, und ich lief davon. Ich habe viel Zeit damit verbracht, davonzulaufen. Viel zuviel Zeit! Ich bin kein Mann des Schwerts, weißt du.«
»Das spielt keine Rolle. Es ist schön, dich wiederzusehen.«
»Und ich bin froh, dich wiederzusehen. Ich habe deine Laufbahn verfolgt und Tagebuch über deine Heldentaten geführt. Es ist wahrscheinlich noch immer in Dros Delnoch. Übrigens, ganz zu Anfang hat der alte Mann noch etwas gesagt. Er sagte, es wären drei. Gold, Eis und Schatten. Ananais ist der Goldene. Du bist der Khan der Schatten. Wer ist Eis?«
Tenaka wandte sich ab und starrte in die Bäume.
»Es gab einmal einen Mann. Er war als der Eistö-ter bekannt, denn er lebte nur für den Tod. Er heißt Decado.«
Drei Tage lang durchstreiften die Gefährten den Wald in Richtung Süden und Westen auf die Skoda-Berge zu. Es wurde wärmer, und der Schnee schmolz in der Frühlingssonne. Sie bewegten sich wachsam, und am zweiten Tag fanden sie den Leichnam des blinden Suchers, der neben einer knorrigen Eiche kniete. Der Boden war zu hart, um ein Grab auszuheben; so ließen sie ihn einfach dort.
Galand und sein Bruder blieben neben dem Toten stehen.
»Seltsam. Er sieht nicht gerade unglücklich aus«, sagte Parsal und kratzte sich den Bart.
»Es ist schwer zu sagen, ob er lächelt oder ob der Tod sein Gesicht so verzerrt hat«, meinte Galand. »In etwa einem Monat sieht er bestimmt sehr unglücklich aus.«
»Und wir?« flüsterte Parsal. Galand zuckte die Achseln, und die beiden Brüder machten sich auf, den anderen zu folgen.
Galand war glücklicher dran gewesen und entschieden klüger als die meisten anderen Krieger des Drachen. Als der Befehl zur Auflösung kam, war Galand nach Süden gegangen und hatte für sich behalten, woher er kam. In der Nähe des Waldes von Delving, südwestlich der Hauptstadt, kaufte er einen kleinen Bauernhof. Als die Schreckensherrschaft begann, ließ man ihn in Ruhe. Er heiratete ein Mädchen aus dem Dorf und gründete mit ihr eine Familie. Aber an einem strahlenden Herbsttag vor sechs Jahren war seine Frau verschwunden. Es hieß, daß die Bastarde Frauen raubten, doch Ga-land wußte, daß seine Frau ihn nie geliebt hatte … und ein Bursche aus demselben Dorf, Carcas, war am selben Tag verschwunden.
In Delving machten Gerüchte die Runde, daß man Jagd auf die ehemaligen Offiziere des Drachen machte, und man sagte, daß Baris selbst verhaftet worden war. Das alles überraschte Galand nicht - er hatte immer vermutet, daß Ceska sich als Tyrann erweisen würde.
Mann des Volkes! Seit wann scherte es einen aus Ceskas verderbtem Stand, wie es dem Volk erging?
Der kleine Hof war einträglich, und Galand kaufte von einem Witwer ein angrenzendes Stück Land dazu. Der Mann wollte nach Vagria - er hatte einen Bruder in Drenan, der ihn vor bevorstehenden Veränderungen gewarnt hatte - und Galand hatte ihn aufgekauft, für einen Preis, nicht höher als ein Pfefferkorn.
Dann waren die Soldaten gekommen. Ein neues Gesetz besagte, daß Bürger ohne Titel nicht mehr als vier Morgen Land besitzen durften. Der Staat beanspruchte den Rest für sich - zu einem Preis, der ein Pfefferkorn fürstlich erscheinen ließ. Die Steuern wurden erhöht und Erntemengen festgesetzt. Nach dem ersten Jahr waren diese Mengen unmöglich zu erzielen, denn das Land wurde seiner Güter beraubt. Brachliegende Felder wurden bepflanzt, die Erträge sanken.
Galand nahm alles hin, ohne sich zu beklagen.
Bis zu dem Tag, an dem seine Tochter starb. Sie war hinausgelaufen, um die Reiter zu sehen, und ein Hengst hatte nach ihr getreten. Galand sah sie fallen, rannte zur ihr und barg sie in den Armen.
Der Reiter stieg ab. »Ist sie tot?« fragte er.
Galand nickte; er brachte kein Wort hervor.
»Leider«, sagte der Reiter, »wird das deinen Steuersatz erhöhen.«
Der Reiter starb, als Galand ihm seinen Dolch ins Herz stieß. Dann zog er ihm das Schwert aus der Scheide und sprang einen zweiten Reiter an, dessen Pferd scheute. Der Mann wurde abgeworfen, und Galand tötete ihn durch einen Stoß in die Kehle. Die übrigen vier wendeten und zogen sich etwa dreißig Schritt zurück. Galand ging zu dem schwarzen Hengst, der seine Tochter getötet hatte, und hämmerte ihm das Schwert beidhändig
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