Der Schatz des Dschingis Khan
sehr Vivien es genoss, einmal mehr als ihre große Schwester zu wissen. »Ich habe ihr heute Morgen geholfen, die Box fertig zu machen. Da hat sie es mir erzählt.«
»Aha!« Muriel hatte mit dem Hufauskratzen begonnen und sah nicht einmal auf. Sie konnte es nicht leiden, wenn Vivien so wichtig tat, und gab sich betont gleichgültig. »Dann kannst du mir ja sicher auch sagen, wie so ein Pferd aussieht.«
»Braun!«, kam Viviens Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Es hat einen blonden Schweif und eine wunderschöne weiße Wallemähne.«
»So? Stimmt das auch?«
»Na klar!«, rief Vivien empört aus. »Andrea hat mir ein Bild gezeigt.«
»Na, dann muss es ja richtig sein.« Muriel ließ den Hinterhuf los und widmete sich dem nächsten. »Wann kommt es denn?«, fragte sie in der Hoffnung, dass Vivien nun zugeben müsse, es nicht zu wissen.
»Jetzt!« Vivien vollführte eine so schnelle Drehung auf Neros Rücken, dass der Wallach erschrocken zusammenzuckte. Der schwere Huf glitt Muriel aus den Händen und verfehlte ihren Fuß nur um Haaresbreite.
»Mensch, Vivien, ich habe dir doch gesagt, du sollst still sitzen!«, fuhr sie ihre Schwester an. »Jetzt hätte Nero mir fast …« Sie verstummte, weil in diesem Augenblick ein schwarzer Jeep mit Pferdeanhänger auf den Hof gerollt kam.
»Sag ich doch, dass es jetzt kommt!«, rief Vivien fröhlich, ließ sich gekonnt von Neros Rücken heruntergleiten und lief dem Jeep entgegen, um ja nichts von der Ankunft des neuen Pferdes zu verpassen.
Muriel war auch neugierig, aber mit dreizehn wusste sie sich zurückzunehmen und so widmete sie sich zunächst weiter Neros Fellpflege. Dass sie dabei den Jeep gut im Blick hatte, war nicht wirklich ein Zufall, wirkte allerdings lange nicht so aufdringlich wie Viviens Gehabe, die gerade auf einen Stapel Strohballen kletterte, um als Erste einen Blick in den Pferdeanhänger werfen zu können.
Mitten auf dem Hof hielt der Jeep an. Die Beifahrertür wurde geöffnet und Muriel sah, wie sich ein ausladender weißer Hut mit schwarzen Federn langsam über das Wagendach erhob.
»Mon Dieu, Louis!«, hörte sie eine hysterisch klingende Frauenstimme schimpfen. »Warum sin’ Sie nischt weiter an die Rand gefahren? Diese Matsch ’ier ist une Katastrof!«
Sie machte einige unbeholfene Schritte in Richtung der Haustür, blieb aber gleich wieder stehen und schimpfte lautstark auf Französisch vor sich hin.
Kein Wunder bei dem Aufzug! Muriel schüttelte den Kopf. Passend zum Hut trug die Frau einen eleganten, schwarz-weißen Mantel, eine schwarze Handtasche aus Lackleder und vermutlich Schuhe, die alles andere als matschtauglich waren.
Auf so feinen Besuch war der Birkenhof nun wirklich nicht eingestellt.
»Ah, Madame de Chevalier!«
Die Tür des reetgedeckten Wohnhauses wurde geöffnet. Muriels Mutter kam heraus und eilte über den Hof, um die Besucherin zu begrüßen. Wie immer, wenn sie zu Hause war und im Labor arbeitete, trug sie einen weißen Kittel und hatte die langen braunen Haare am Hinterkopf hochgesteckt.
Muriel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie ihre Mutter sah. Die olivgrünen Gummistiefel waren auf dem matschigen Hof durchaus angebracht, passten aber so gar nicht zum blitzsauberen Laboroutfit. Offenbar war die Kundin zu früh gekommen und ihre Mutter hatte keine Zeit gefunden, sich umzuziehen.
»Sie kommen aber früh.« Lächelnd reichte Renata Vollmer Madame de Chevalier die Hand. »Bitte entschuldigen Sie meinen unpassenden Aufzug«, sagte sie und fügte, wie um Muriels Vermutung zu bestätigen, hinzu: »Ich habe Sie erst in einer halben Stunde erwartet.«
»Excusez-moi, Madame Vollmeer«, sagte Madame de Chevalier mit deutlich französischem Akzent. »Isch wollte Ihnen keine Umstände machen.«
»Das tun Sie auch nicht«, beeilte sich Muriels Mutter zu erklären und erkundigte sich: »Hat Ascalon die lange Fahrt gut überstanden?«
»Oh, aber sischer.« Madame de Chevalier deutete in den Wagen, wo ein junger Mann mit Chauffeurkappe am Steuer saß. »Louis ist eine sehr umsischtige Chauffeur«, erklärte sie, während sie mit einer Hand ihren ausladenden Hut ein wenig nach hinten schob und sich naserümpfend auf dem Hofplatz umblickte. »Wo gedenken Sie Ascalon untersubringen?«
»Dort hinten im Stall. Andrea hat bereits eine meiner Patientenboxen für ihn vorbereitet.« Renata Vollmer deutete auf das weiß gestrichene Backsteingebäude, das dem Wohnhaus gegenüber stand. »Möchten Sie einmal
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