Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
Vom Netzwerk:
finde das Mädchen! Wenn ich mich nicht sehr irre, braucht sie dringend Hilfe, so oder so.«
    »Versprochen.« Bert gab ihr die Hand. Er würde sich noch einmal mit Tilo Baumgart unterhalten. Ganz in Ruhe. Von Mann zu Mann.
     
    Tilo saß auf der kleinen Terrasse seiner Wohnung und hörte sich das letzte Gespräch mit Mina an. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Sitzungen aufzuzeichnen und die Therapie auf diese Weise zu dokumentieren. Die Zeit wurde knapp. Man suchte nach Mina. Lange würde es nicht mehr dauern und die Polizei hätte sie gefunden.
    Natürlich hatte Tilo Mina geraten, sich bei der Polizei zu melden.
    »Und dann?«, hatte sie gefragt. »Wie gehen die dann weiter vor?«
    »Es wird eine psychologische Untersuchung geben.«
    »Die klarstellen soll, ob ich zurechnungsfähig bin oder nicht?«
    Darauf würde es hinauslaufen. Tilo hatte versucht, es ihr so einfach wie möglich zu erklären.
    »Und wenn … wenn ich es getan habe? Wenn … einer von uns es getan hat?«
    »Ich glaube nicht daran«, hatte Tilo gesagt. »Es ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Du hättest in all den Jahren tausend Gelegenheiten gehabt, deinem Vater etwas anzutun. Warum ausgerechnet jetzt? Wo du doch sogar den Schritt geschafft hattest, dein Zuhause zu verlassen? Verstehst du? Es gab keinen Grund.«
    »Und wenn doch?«
    Wie Tilo diese drei Worte fürchtete. Nichts, was er ihr gesagt hatte, war bis ins Zentrum ihrer Selbstzweifel vorgedrungen.
    »Und wenn doch?« Drängender.
    Da hatte Tilo ihr von Billy Stanley Milligan erzählt, einem multiplen Sexualstraftäter, der in den Siebzigerjahren verhaftet und später in einem aufsehenerregenden Prozess für nicht schuldfähig erklärt worden war. Es war der erste Fall dieser Art in Amerika gewesen.
    »Kam er frei?«
    »Er wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.« Tilo hatte sich in diesem Augenblick gewünscht, das magische Wort zu kennen, mit dem er Mina hätte beruhigen und trösten können. Es gab kein solches Wort. Das machte das Leben so schwierig.
    »Wenn das … wenn das bei mir auch so wäre - würden Sie mich weiter therapieren?«
    Das konnte er ihr nicht versprechen und er tat es auch nicht. »Es gibt Therapeuten, die sich auf Fälle wie deinen spezialisiert haben. Es wäre sowieso viel klüger, dich an einen dieser Kollegen zu vermitteln.«
    Sie versteifte sich. Baute mit verschränkten Armen eine Mauer, die kein Wort überwinden würde. Und Tilo hatte wieder gewusst, warum er sich auf all das hier eingelassen hatte. Im Augenblick war Vertrauen für Mina das Wichtigste. Die Tatsache, dass sie überhaupt Vertrauen zu einem Menschen aufbauen konnte, war ein kleines Wunder. Sie hatte sich für Tilo entschieden und das musste er respektieren.
    Er drückte die Stopptaste, machte ein paar Notizen und ließ das Band weiter laufen. Ihre Stimme aus dem Aufnahmegerät zu hören, war ein gutes Kontrollmittel. Während der Sitzungen wurde er oft von Minas Mimik und Gestik abgelenkt oder von der Dramatik dessen, was sie erzählte. Hier konnte er sich ganz auf den Inhalt konzentrieren. Die Veränderungen ihrer Stimme waren ein zusätzliches Hilfsmittel, um das Gesagte einzuschätzen.
    »Der Vater kannte viele Strafen. Schläge. Einsperren. Essensentzug. Kalte Duschen. Stundenlanges Knien vor dem Kreuz. Stundenlanges Beten, laut, damit er es hören konnte, während er sich nebenan mit anderen Dingen beschäftigte. Öffentliches Bereuen, meistens Sonntags, nach der Messe, vor allen Gläubigen.«
    Die Gastgeberin, notierte Tilo. Sie war die Persönlichkeit, die ihm die liebste war. Abgesehen von Clarissa, dem fünfjährigen Mädchen, das sich nur selten zeigte. Die Gastgeberin  hatte alles ins Rollen gebracht. Sie war es, die den Mut aufgebracht hatte, ihn aufzusuchen und um Hilfe zu bitten.
    »Und jeder glotzt dich an. Mit diesem kuhäugigen Blick, den sie alle draufhaben. Und der Vater thront über ihnen und über der ganzen Welt. Wie ich sie gehasst hab! Am liebsten hätt ich draufgespuckt! Auf jeden Einzelnen. Außer auf Ben. Der war okay.«
    Marius, schrieb Tilo. Er war diejenige Persönlichkeit, die die Strafaktionen des Vaters stellvertretend für das Team ertragen hatte.
    »Hat Ben euch geholfen?« Tilo stellte die Zwischenfrage, um Marius nicht zu verlieren. Marius kam und ging blitzschnell. Meistens war er schon wieder weg, nachdem Tilo ihn gerade erst registriert hatte.
    »Keiner konnte uns helfen. Erst recht nicht Ben. Der war ja selber Opfer. Der Vater hat ihn härter

Weitere Kostenlose Bücher