Der Scherbensammler
verrückt. Ihm wurde schlecht, aber er hörte nicht auf. Vergessenvergessenvergessen, hämmerte es im Rhythmus der Bewegungen in seinem Kopf. Umsonst. Die Gedanken an Imke Thalheim ließen sich nicht vertreiben.
Immer noch atemlos, stand er schließlich auf der Terrasse und betrachtete den Garten, den Margot mit großer Sorgfalt angelegt hatte. Er sah das Seerosenbecken mit dem Steinfrosch, die im Mondlicht glänzenden Tonkugeln zwischen den Stauden, das kleine Blockhaus, in dem die Gartengeräte untergebracht waren. Und als ihm die Tränen kamen, erleichterte ihn das nicht, denn all das hier war ihm zuwider, seit er zum ersten Mal den Garten der alten Mühle gesehen hatte.
Tilo fuhr und wir hielten die Augen offen. Merle, die hinten saß, beobachtete die linke Straßenseite, ich die rechte. Mit der Zeit war es still geworden in der Stadt. Keine Spaziergänger mehr, keine Wartenden an den Bushaltestellen, nur noch wenige, die von Kneipengängen oder Partys übrig geblieben waren und jetzt den Weg nach Hause angetreten hatten.
Es regnete leicht. Das nasse Pflaster auf den Gehsteigen reflektierte die Beleuchtung in den Schaufenstern. Blätter klebten auf dem Asphalt. Wir verließen das Zentrum wieder, fuhren durch eines der angrenzenden Stadtviertel, langsam, um Mina bloß nicht zu übersehen.
»Wenn sie draußen rumläuft, finden wir sie.«
Tilo wiederholte diesen Satz gebetsmühlenartig. Er wollte uns und vielleicht auch sich selbst damit Mut machen, doch das funktionierte nicht. Mindestens siebenmal hatten wir inzwischen den Marktplatz umrundet. Uns jedes einzelne Stadtviertel vorgenommen. Wir waren zweimal in der Wohnung gewesen, um nachzusehen, ob Mina zwischenzeitlich dort aufgetaucht war, hatten den Wagen abgestellt, um die Fußgängerzone zu durchstreifen. Von Mina keine Spur.
Wir näherten uns wieder der Gegend um die alte Fabrik. Mina kannte sich hier aus. Würde sie in einer Notsituation nicht hierher zurückkehren? Merle und ich hielten das für wahrscheinlich. Tilo bezweifelte es.
»Aber es ist natürlich alles möglich«, sagte er. »Bei einem Menschen wie Mina gibt es keine berechenbaren Faktoren. Zwei Überlegungen bereiten mir Sorgen. Erstens: Mina steht unter einem extremen Druck. Zweitens: Wir kennen möglicherweise erst einen Bruchteil ihrer Persönlichkeiten. Und das bedeutet …«
»… dass wir keine Ahnung haben, wer sie im Augenblick ist«, vervollständigte ich seinen Satz.
Tilo nickte. »Deshalb kann ich ihr Verhalten so schlecht einschätzen. Die Persönlichkeiten, die ich kennengelernt habe, würden um nichts in der Welt in ihr altes Zuhause oder auch nur in die Nähe davon zurückkehren, denn sie haben sich gerade erst mit immensen Schwierigkeiten daraus befreit. Ich weiß allerdings nicht, ob es für andere Persönlichkeiten nicht gute Gründe gibt, es doch noch einmal zu tun.«
»Vielleicht, weil sie eine alte Rechnung begleichen wollen.« Merle presste die Lippen zusammen, aber sie hatte nur ausgesprochen, was mir ebenfalls durch den Kopf gegangen war.
Tilo packte das Lenkrad fester. Seine Lippen waren gerade Striche. Er sah einsam und unglücklich aus.
»Sag, dass das nicht möglich ist!«, flehte ich ihn an. »Dass Mina nichts Böses im Schilde führt und dass sie auch mit dem Tod ihres Vaters nichts zu tun hat!«
»Jette …« Merle drückte meine Schulter.
»Bitte, Tilo! Sag es!«
Für eine Sekunde schloss er die Augen. Dann richtete er den Blick wieder auf die Straße.
»Ich wollte, ich könnte es«, flüsterte er.
Wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich nicht.
Die feuchte Kälte kroch ihr unter die Haut. Noch nie hatte sie so gefroren. Der Regen fiel in langen Schnüren. Er machte ein schönes Geräusch. In ihrem Kopf bildeten sich Gedanken, die sie nicht verstand. Der Regen war das einzig Verlässliche.
Sie erkannte die Fabrik. Sie wusste, sie durfte nicht hineingehen. Irgendetwas Schlimmes war hinter den großen Fenstern geschehen. Warum war sie hier?
Wie einsam das große, dunkle Gebäude da stand. Und wie still. In dieser Reglosigkeit lauerte etwas. Eine Kälte, die noch eisiger war.
Ohne Vorwarnung blitzten Bilder auf. Viele Menschen in einem großen Raum. Ein Raunen. Beten. Gesang. Und der Vater vorn am Altar. Er hebt die Arme. Die Menschen sinken auf die Knie. Der Vater zeigt auf das kleine Mädchen. Er sagt kein Wort. Rundum wird es still. Alle Augen richten sich auf das Mädchen.
»Bestraft sie«, sagt der Vater.
Und sie kommen auf
Weitere Kostenlose Bücher