Der Scherbensammler
Markt, bestellten sie sich einen überbackenen Toast und überlegten, wie sie weiter vorgehen sollten. Das kalte Neonlicht stand im krassen Widerspruch zu den in warmem Ocker getünchten Wänden und den zahlreichen Pflanzen, die aus bauchigen Kübeln sprossen. Mücken umsirrten die Lichtröhren. Sie waren aggressiver als sonst, aber auch langsamer. Ihre Tage waren gezählt.
»Vielleicht ist Mina nach Hause zurückgekehrt«, sagte Jette. »Zu ihrer Mutter.« Sie leckte sich einen Käsefaden aus dem Mundwinkel. »Um endlich reinen Tisch zu machen.«
»Aber doch nicht, ohne uns ein Wort zu sagen.« Merle hatte ein schlechtes Gewissen. Wie konnte man krank sein vor Sorge und gleichzeitig einen Toast mit solchem Heißhunger verschlingen?
Es waren nicht viele Gäste da. Der Kellner lehnte gelangweilt an der Theke und blätterte in einer Zeitschrift. Sein rechter Fuß tippte den Takt zu It’s Raining Men auf den rostfarbenen Fliesenboden.
Jette schob ihren Teller weg und holte ihr Handy hervor. Auf ihrem Gesicht lag ein Schimmer von Hoffnung. »Tilo«, sagte sie, und ihr Daumen drückte schon die Tasten. »Wenn uns einer helfen kann, dann er.«
Darauf hätten sie auch früher kommen können. Nach zwei Jahren Therapie kannte ein Therapeut seine Patienten bestimmt fast besser als sich selbst. Und Mina hatte unbedingtes Vertrauen zu Tilo. Vielleicht hatte sie sich zu ihm auf den Weg gemacht. Oder sich zumindest bei ihm gemeldet.
»Hi, Tilo«, sagte Jette. »Entschuldige, dass ich so spät noch … Das ist nett von dir. Danke. Weswegen ich anrufe … Nein, mach dir keine Sorgen. Es ist nur - wir wissen nicht, wo sie ist. Und da dachte ich, ich frag mal bei dir nach, ob … Nein, verschwunden würde ich nicht sagen. Vielleicht wollte sie ja nur mal eine Weile raus. Wohnungskoller, verstehst du? … Klar haben wir gesucht. Überall. Kannst du nicht … Ja. Wir sind im Rapunzel, Merle und ich. Das kleine Bistro am Markt … Okay. Danke, Tilo. Bis gleich.«
Merle stellte keine Fragen. Jette erklärte nichts. Schweigend saßen sie da und warteten. Und die Zeit verging.
Bert konnte nicht schlafen. Neben sich hörte er die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge seiner Frau. Sie machten ihn wütend und er schämte sich deswegen. Gönnte er Margot nicht einmal eine ruhige Nacht? Er schlug die Bettdecke zurück, setzte sich auf und griff nach seinem Bademantel, der auf dem Schaukelstuhl lag.
Der Schaukelstuhl war das einzige Möbelstück, das Bert mit in die Ehe gebracht hatte. Er hatte ihn von seinem allerersten selbst verdienten Geld auf einem Flohmarkt erstanden. Doch er liebte ihn nicht nur aus sentimentalen Gründen. Der Schaukelstuhl gehörte ihm ganz allein und schon das machte ihn zu etwas Besonderem.
Das gesamte Haus war nach Margots Vorstellungen eingerichtet. Sogar die Kinderzimmer hatten sich ihrem Geschmack gebeugt. Bert hatte das ohne Widerspruch akzeptiert, denn es war ihm nur gerecht erschienen, dass Margot, die ihren Beruf aufgegeben hatte, hier das Sagen haben sollte.
Obwohl er klare Linien mochte und sparsam möblierte Räume, hatte er sich mit Margots Vorliebe für vollgestellte Zimmer und ständig wechselnde Dekorationen arrangiert und ihren Streifzügen durch die Geschäfte für Wohnaccessoires wenn nicht Verständnis, so doch Toleranz entgegengebracht. Seinen Schaukelstuhl allerdings hatte er nicht hergegeben, und seit das gute Stück ins Schlafzimmer verbannt worden war, hing er nur noch mehr an ihm. Er hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht erträglich gemacht.
Heute jedoch verließ Bert das Schlafzimmer. Er war auf der Flucht vor seinen Gedanken, die immer wieder zur alten Mühle zurückkehrten und zu Imke Thalheim, an die er eigentlich nicht mehr hatte denken wollen. Er fühlte sich Margot gegenüber schuldig. Und war von sich selbst enttäuscht. Ihre Liebe hatte nicht einfach aufgehört. Er hatte sie getötet in all den Jahren, in denen ihm seine Arbeit wichtiger gewesen war.
Er ging in das Kellerzimmer, in dem der Crosstrainer stand. Margot hatte ihn angeschafft und lag Bert täglich mit der Forderung in den Ohren, ihn doch bitte zu benutzen. Jetzt war der Moment gekommen. Die Alternative wäre ein Sandsack gewesen (den Bert nicht besaß) oder ein Lauf von mindestens zehn Kilometern (den Bert nicht durchhalten würde).
Zehn Minuten später klammerte Bert sich keuchend an den Haltegriffen fest. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er steigerte das Tempo. Sein Herz spielte vor Anstrengung
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