Der Scherbensammler
An die unheimliche Situation beim Schlosspark gestern Abend, als sie mit Jette unterwegs gewesen war.
»Du hast uns Angst eingejagt«, sagte sie.
»Das tut mir leid.«
Merle sah ihm in die Augen. Was sie fühlte, würde Claudio ganz und gar nicht gefallen. Er war felsenfest davon überzeugt, dass ihm kein Mann das Wasser reichen konnte. Da irrte er sich aber gewaltig. Jemand wie dieser Ben konnte ihm durchaus gefährlich werden.
Doch Ben hatte den Blick schon wieder auf Mina gerichtet. Es lag eine solche Sehnsucht darin, dass es Merle die Kehle zuschnürte.
»Ich war so oft in deiner Nähe«, flüsterte er. »Und hab auf dich aufgepasst.«
»Mein Schutzengel.« Mina lächelte zaghaft.
»Hab ich dir doch geschworen. Damals. Du warst fünf … und Max …«
Mina zog die Schultern zusammen. Ben hob die Hand, wie um seine letzten Worte wegzuwischen.
Fünf? Merle stutzte. Clarissa war fünf! Was war damals passiert? Als Mina in diesem Alter gewesen war?
»Und gestern habe ich dich dann gesehen.« Ben hatte Merle jetzt völlig vergessen. »Wirklich und wahrhaftig. Nach all den Wochen.«
Mina wandte sich ab. Sie schien in sich hineinzuhorchen.
»Ich habe dich nicht angesprochen. Du wirktest so … verletzlich. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich bin dir gefolgt. Wie ein Schatten.«
»Wie ein Schatten«, wiederholte Mina tonlos.
»Um dich zu beschützen.«
»Die ganze Nacht?«, mischte Merle sich ein. Ihr war auf dem Fabrikgelände niemand aufgefallen.
»Nein.« Er beachtete Merle nicht, blendete sie einfach aus. »Irgendwann habe ich dich aus den Augen verloren.« Er griff nach ihrer Hand. »Das hätte mir nicht passieren dürfen.«
»Max ist tot.« Ein Flüstern nur.
»Ich weiß. Die Polizei ist schon bei Lea gewesen.«
Mina senkte den Kopf. Langsam zog sie die Hand zurück. Ben schien es nicht zu bemerken. Sein Blick liebkoste Minas Gesicht.
»Er hat den Tod verdient!«
Merle erkannte Cleos Stimme sofort. Ben offenbar nicht. Irritiert runzelte er die Stirn.
»Hundertmal hat er ihn verdient!« Cleo schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er war ein Schwein!«
Ben betrachtete sie bestürzt.
Merle dachte an die Gespräche mit Tilo zurück. Hatte er ihnen nicht erzählt, niemand habe von Minas Identitätsstörung gewusst? Nicht einmal Ben, ihr engster Freund?
Multiple, hatte Tilo erklärt, seien wahre Meister im Verbergen ihrer Probleme. Man habe Mina lediglich für ein bisschen sonderbar gehalten, sich hin und wieder über ihre Stimmungsschwankungen gewundert. Auch die Familie sei ahnungslos gewesen. Die Mutter habe die Auffälligkeiten der Tochter ignoriert, der Vater habe versucht, sie Mina auszutreiben.
Ben wusste also nicht, wen er da gerade vor sich hatte.
»Ich habe kein Mitleid mit ihm. Und du«, Cleo zeigte mit dem Finger auf ihn, »du solltest ihn auch nicht bedauern.«
Die Morgenlaute der Straße drangen zu ihnen herauf, mitten in das entstandene Schweigen hinein. Motorengeräusche. Rufe. Hundegebell. Das Rumpeln und Scheppern der Müllabfuhr.
»Wie könnte ich ihn bedauern«, sagte Ben unglücklich. »Nach allem, was er dir angetan hat.«
Für einen kurzen Moment hatte Merle den Eindruck, Cleo würde sich zurückziehen, doch sie hatte sich getäuscht. Cleo schien gar nicht daran zu denken, einer anderen Persönlichkeit das Feld zu räumen.
»Warum bist du hier?«, fragte sie Ben ganz direkt.
Ben zauderte. Doch als er antwortete, war seine Stimme sicher und fest. »Weil ich dich liebe. Und weil ich dir das endlich sagen will.«
Cleo runzelte die Stirn.
»Du musst das doch gespürt haben.« In einer Geste absoluten Zutrauens hielt Ben ihr beide Hände hin, die Handflächen nach oben gerichtet. »Hätte ich es sonst all die Jahre bei diesem Wahnsinnigen ausgehalten?«
Merle sah die Explosion kommen. Und konnte nichts tun, um sie zu verhindern.
Es war nun schon das zweite Mal, dass ich mich verspätet hatte. Frau Stein war in der Küche und räumte mit viel Getöse das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Die Küchenhilfe hatte sich krankgemeldet, wieder einmal. Sie fehlte schon seit drei Tagen. Das brachte den gesamten Arbeitsablauf durcheinander.
»Herzlich Willkommen!«
Der Sarkasmus der Heimleiterin war nicht zu überhören. Sie war berüchtigt dafür. Die meisten ihrer Mitarbeiter hatten deswegen Angst vor ihr. Ich hatte mir jedoch vorgenommen, mich davon nicht einschüchtern zu lassen.
»Tut mir leid.« Ich zog mir einen
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