Der Scherbensammler
wollte, Claudio würde so für mich empfinden.«
Tilo versuchte, die Informationen einzuordnen. Keine von Minas Persönlichkeiten hatte tiefere Gefühle für Ben auch nur angedeutet. Ben war immer der große Bruder gewesen, der Spielkamerad, der Freund, der Leidensgenosse. Und nicht selten der Prügelknabe, der Minas Strafen auf sich genommen hatte, um sie zu schützen.
Clarissa hatte sich bei ihm geborgen gefühlt. Marius hatte ihn als Kumpel geschätzt. Cleo hatte ihn als Verbündeten gebraucht in der Auflehnung gegen den sadistischen Vater und die strenge Gläubigkeit der Wahren Anbeter Gottes.
Und Mina, die das gesamte Team durch den Alltag trug? Für sie war Ben der Fels in der Brandung gewesen. Immer wieder hatte er ihre Zweifel zerstreut und sie beschwichtigt, wenn sie an ihrer geistigen Gesundheit zweifelte. Er hatte sie angenommen, wie sie war, mit all ihren Absonderlichkeiten, hatte nie versucht, sie zu manipulieren.
»Wie hätte Mina auf seine Liebeserklärung reagiert?«, fragte Merle.
»Sie hätte ihn ebenfalls abgewiesen. Nicht so hart wie Cleo, aber dennoch bestimmt.«
»Armer Ben.« Merle öffnete die Spülmaschine, um das Geschirr einzuräumen. »Die wenigsten Liebesgeschichten haben ein glückliches Ende.«
Tilo erhob sich ächzend. Der Schlafmangel machte ihm nun doch zu schaffen. »Ich schau mal nach Mina. Sie soll wissen, dass sie das Gespräch mit dem Kommissar nicht allein hinter sich bringen muss.«
Imke versuchte zu schreiben, doch sie brachte nicht eine einzige Zeile zustande. Wie denn auch, nachdem Tilo derart fluchtartig und unversöhnlich das Haus verlassen hatte? Sie wünschte, er hätte mit ihr gestritten. Sie angebrüllt. Porzellan zerschlagen. Alles wäre besser gewesen als sein vorwurfsvolles, bedeutsames Schweigen.
Das Surren des Computers machte sie nervös. Aber sie brachte es nicht fertig, ihn auszuschalten. Sie war unfähig, auch nur die kleinste Entscheidung zu treffen.
Das Telefon klingelte. Es war der Bauer, dem sie ein Stück Land verpachtet hatte. Eines seiner Schafe hatte sich durch ein Loch im Zaun gezwängt und war auf Wanderschaft gegangen, und nun bat er um Erlaubnis, den Garten und die Scheune durchsuchen zu dürfen.
Als Imke mit Jette hierhergezogen war, hatten Absprachen mit den Einheimischen überhaupt nicht funktioniert. Da war es zu so mancher Grenzüberschreitung gekommen. Die Dorfbewohner hatten die alte Wassermühle lange Zeit als allgemeines Eigentum betrachtet, ebenso wie das Land ringsherum. Es war ihnen nur schwer beizubringen gewesen, dass der Trampelpfad, der am Garten entlang führte, von nun an tabu für sie war, ebenso wie die idyllischen Uferflecken am Bach, an denen die Jugendlichen Feuer gemacht und Partys gefeiert hatten, solange sie zurückdenken konnten.
Die Bauern hatten die neuen Bewohner der Mühle skeptisch beäugt. Einige hatten aus ihrer Feindseligkeit keinen Hehl gemacht. Erst nach und nach hatten sie ihr Misstrauen und ihre Abneigung abgelegt. Von freundschaftlichen Beziehungen konnte noch immer nicht die Rede sein, aber Imke wurde inzwischen immerhin toleriert und das war ein echter Fortschritt.
Imke wünschte dem Bauern viel Erfolg bei der Suche nach dem verlorenen Schaf, beendete das Gespräch und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Doch ihr Gehirn streikte. Es produzierte keinen einzigen brauchbaren Satz. Seufzend lehnte sie sich zurück.
Zum ersten Mal, seit sie mit Tilo zusammen war, wusste sie nicht, wo er sich aufhielt. Und schlimmer noch - seit heute Morgen war ihr klar, dass sie in den vergangenen Wochen keine Ahnung gehabt hatte, was ihre Tochter beschäftigte. Anders als er. Die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben hatten ein Geheimnis geteilt und sie dabei ausgeschlossen.
Sie war verletzt. So sehr, dass sie das Bedürfnis hatte, etwas kaputt zu machen. Sie verkrampfte die Finger ineinander, um nicht den Monitor vom Schreibtisch oder die Pflanzen von der Fensterbank zu fegen. Sie sehnte sich danach, weinen zu können. Stattdessen sprang sie auf und lief im Haus herum.
Wie hatte sie Tilos Vertrauen so enttäuschen können?
»Aber er ist es doch, dem es an Vertrauen fehlt«, widersprach sie sich selbst. »Er ist es doch, der sich fragen sollte, was er eigentlich unter Liebe versteht.«
Und Jette?
Wann hatte ihre Tochter aufgehört, mit ihr zu reden? Wann hatte sich ihre Beziehung zu dem verflacht, was jetzt davon übrig war?
Imke merkte, dass sie anfing, vor sich hin zu jammern, und wenn sie
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