Der Schimmer des Ledger Kale
auf dem Rasen, der hohen weißen Birke gegenüber, stand Winonas tollste Skulptur: der mythische Wolpertinger, an dem sie gearbeitet hatte, als ich sie kennenlernte. Sein verästeltes Geweih glänzte in der Sonne. Das war mal ein Neuzugang in Mr Cabots Sammlung, der mir gefiel.
Ich beobachtete lächelnd, wie Bitsy die verrückte Skulptur beschnüffelte, und mein Blick wanderte nach oben, als sich auf der Spitze des rechten Wolpertingerohrs ein schillernder blaugrüner Schmetterling von der Größe eines Tellers niederließ. Der Königin-Alexandra-Vogelfalter klappte seine riesigen Flügel langsam auf und zu. Und zauberte mir ein noch breiteres Lächeln ins Gesicht.
Schnell und fast beiläufig zog ich eine Handvoll kleiner Schrauben aus den Briefkästen gegenüber, warf sie an Sarah Janes Fenster und hoffte, dass Hedda, der Hausdrachen, nicht angelaufen kam – falls er nicht längst im Weltall war. Während ich darauf wartete, dass Sarah Jane am Fenster erschien, entdeckte ich auf dem Boden die Autoantenne von Mr Cabot; sie war Monate zuvor von seinem Lincoln abgefallen und hatte sich in einem Spalt zwischen Gehsteig und Gras versteckt. Ich hob sie auf und verbog sie flink.
»Na, was machst du heute wieder kaputt, Cowboy?«, fragte Sarah Jane. Sie öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und ließ ihre Haare in einem langen Zopf herabfallen. Sie wollte kühl klingen, aber sie grinste, und ihre grünen Augen funkelten.
»Gar nichts, SJ«, rief ich zurück. »Nur das hier!« Ich hielt meine Kreation hoch – eine hübsch geformte Antennendrahtblume – und hoffte inständig, damit nicht wie ein liebestrunkener Clown auszusehen. Ich fragte mich, ob das jetzt die Stelle war, an der SJ runterkommen und mich küssen würde, so, wie sie es in ihrem Brief geschrieben hatte. Josh hatte mir erklärt, worauf es ankam, wenn dieser Moment nahte. Ich musste ganz ruhig bleiben. Ich durfte nicht ausflippen oder albern reagieren und auch nicht schreiend wegrennen.
Sarah Jane verschwand vom Fenster. Mit Herzklopfen wartete ich darauf, dass sie runterkam und … und …
Vielleicht sollte ich doch wegrennen, dachte ich. Ich konnte die Jungs immer noch anlügen und behaupten, ich wäre dageblieben.
Nur dass Sarah Jane gar nicht runterkam, um mir den Kuss zu geben, den sie mir in ihrem Brief versprochen hatte. Stattdessen erschien sie wieder oben am Fenster und warf einen Zettel runter. Während ich zusah, wie er durch die Luft nach unten segelte, fragte ich mich, ob es nicht vielleicht gefährlich war, ihn zu lesen. Möglicherweise stand da ja, dass Bigfoot hinter mir lauerte … oder dass SJ mir jetzt zwei Küsse geben würde, nicht nur einen.
»Komm schon! Sei ein Mann, Ledge! Du wirst doch wohl keine Angst vor so ein paar kleinen Buchstaben haben, oder?«
Ich schluckte, dann bückte ich mich und hob SJs Zettel auf. Darauf standen acht Wörter:
Du solltest nicht alles glauben, was Du liest.
Danach wusste ich gar nicht mehr, was ich glauben sollte, abgesehen von der Tatsache, dass Sarah Jane und ich Freunde waren. Der einzige Kuss, den ich an diesem Tag bekam, war der in der unglaublichen Geschichte, die ich den Jungs erzählte, als ich zurück in der Schule war – und die hätte eine knüllermäßige Schlagzeile verdient.
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Ingrid Law war lange auf der Suche nach ihrem Schimmer. Sie hat Schuhe verkauft, im Buchhandel gearbeitet und anderen Menschen geholfen, einen Job zu finden. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Colorado. Ihr erstes Buch, „Schimmer“, wurde aus dem Stand heraus ein großer Erfolg.
Birgit Schmitz, geboren 1966, arbeitete am Wiener Burgtheater und am Hamburger Thalia Theater, bevor sie die freie Laufbahn als Übersetzerin, Texterin und Lektorin einschlug. 2007 wurde sie mit dem Förderpreis für literarische Übersetzungen der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet. Seit 2009 lebt sie in Frankfurt am Main.
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