Der Schwarm
unter bestimmten Bedingungen. Das ist nachgewiesen. Im Alter von 18 bis 24 Monaten beginnen Kleinkinder, ihr Abbild im Spiegel zu erkennen. Bis dahin sind sie außerstande, über ihr Ich-Sein zu reflektieren. Sie sind sich ihres eigenenGeisteszustands nicht bewusst, weniger als dieser Wal, den wir eben gesehen haben. Und hören Sie auf, sich ständig nur auf Gallup zu beziehen. Wir bemühen uns hier, die Tiere zu verstehen. Worum bemühen Sie sich eigentlich?«
»Ich wollte doch nur ...«
»Sie wollten? Wissen Sie, wie es auf einen Beluga wirken würde, wenn Sie sich im Spiegel betrachten? Sie bemalen sich das Gesicht, was soll er davon halten? Er wird schlussfolgern, dass Sie die Person im Spiegel identifizieren können. Alles andere wird ihm idiotisch vorkommen. Je nachdem, wie Ihr Geschmack in Sachen Kleidung und Make-up beschaffen ist, wird er sogar bezweifeln, dass Sie Ihr Spiegelbild erkennen können. Er wird Ihren Geisteszustand in Frage stellen.«
Alicia Delaware errötete. Sie setzte zu einer Antwort an, aber Anawak ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Natürlich sind diese Tests nur ein Anfang«, sagte er. »Niemand, der Wale und Delphine ernsthaft erforscht, will den Mythos vom feuchtfröhlichen Menschenfreund wiederbeleben. Wahrscheinlich haben Wale und Delphine an Menschen nicht mal ein sonderliches Interesse, eben weil sie in einem anderen Lebensraum existieren, andere Bedürfnisse haben und aus einer anderen Evolution hervorgegangen sind als wir. Aber wenn unsere Arbeit dazu beiträgt, ihnen mehr Respekt einzuhandeln und sie auf diese Weise besser schützen zu können, ist sie jede Anstrengung wert.«
Er beantwortete noch einige Fragen und tat es so knapp wie möglich. Alicia Delaware hielt sich mit betretener Miene im Hintergrund. Schließlich verabschiedete sich Anawak von der Gruppe und wartete, bis alle außer Sichtweite waren. Danach besprach er sich mit seinem wissenschaftlichen Team, legte die nächsten Termine fest und die weitere Vorgehensweise. Endlich allein, trat er an den Rand des Bassins, atmete tief durch und entspannte sich.
Öffentlichkeitsarbeit lag ihm nicht besonders. Aber er würde in Zukunft nicht drum herumkommen. Seine Karriere verlief allzu planmäßig. Sein Ruf als Erneuerer der Intelligenzforschung eilte ihm voraus. Also würde er sich weiterhin mit den Alicia Delawares dieser Welt herumstreiten müssen, die frisch von der Uni kamen und vor lauter Büchern keinen Liter Meerwasser von innen gesehen hatten.
Er ging in die Hocke und strich mit den Fingern durch das kühle Wasser des Beluga-Beckens. Es war früh am Morgen. Sie führten die Tests und wissenschaftlichen Führungen vorzugsweise durch, bevor das Aquarium öffnete oder nachdem es schloss. Nach den wochenlangenRegenfällen prunkte der März mit einer Reihe ausnehmend schöner Tage, und die frühe Sonne legte sich angenehm warm auf Anawaks Haut.
Was hatte diese Studentin gesagt? Er versuche, die Tiere zu vermenschlichen?
Der Vorwurf nagte an ihm. Anawak hielt sich zugute, Wissenschaft nüchtern zu betreiben. Sein ganzes Leben betrachtete er mit größtmöglicher Nüchternheit. Er trank nicht, ging nicht auf Partys und drängte sich nicht in den Vordergrund, um mit spekulativen Thesen um sich zu werfen. Weder glaubte er an Gott noch akzeptierte er irgendeine Form religiös geprägten Verhaltens. Jede Art von Esoterik war ihm zuwider. Er vermied es, menschliche Wertvorstellungen auf Tiere zu projizieren, wo er nur konnte. Insbesondere Delphine wurden zunehmend Opfer einer romantischen Vorstellung, die nicht minder gefährlich war als Hass und Arroganz: dass sie sich als die besseren Menschen erweisen und die Menschen sich bessern könnten, indem sie versuchten, Walen und Delphinen nachzueifern. Derselbe Chauvinismus, der sich in beispielloser Brutalität ausdrückte, brachte die rückhaltlose Vergötterung hervor, der sich Delphine ausgesetzt sahen. Sie wurden entweder zu Tode gequält oder zu Tode geliebt.
Ausgerechnet seinen eigenen Standpunkt hatte ihm diese hasenzähnige Miss Delaware beibiegen wollen.
Anawak plätscherte weiterhin mit der Hand im Wasser. Nach einer Weile kam der markierte Beluga zu ihm geschwommen. Das Tier war ein vier Meter langes Weibchen. Es streckte den Kopf heraus und ließ sich tätscheln. Dabei stieß es leise Pfeiflaute aus. Anawak fragte sich, ob der Beluga irgendeine menschliche Empfindung teilte und nachvollziehen konnte. Tatsächlich gab es dafür nicht den geringsten Beweis.
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