Der Schwarm
die Spiegel gefunden hatten. Offenbar war ihnen klar,dass sie die Markierung umso deutlicher sehen konnten, je besser die Fläche ihr Spiegelbild reflektierte. Aber wir gingen noch weiter, indem wir die Tiere abwechselnd mit einem echten Farbstift kennzeichneten und mit einem, der nur Wasser enthielt. Es hätte ja sein können, dass die Tümmler einzig auf den taktilen Reiz des Stifts reagierten, aber tatsächlich verharrten sie länger und prüfender vor den Spiegeln, wenn die Markierung sichtbar war.«
»Erhielten die Tümmler Belohnungen?«, fragte einer der Studenten.
»Nein, und wir haben sie auch nicht für den Test trainiert. Wir haben während der Experimente sogar unterschiedliche Körperpartien markiert, um Lern- oder Gewöhnungseffekte auszuschließen. Seit wenigen Wochen führen wir nun den gleichen Testaufbau mit Belugas durch. Sechsmal haben wir den Wal markiert, zweimal mit dem Placebo-Stift. Sie haben gesehen, was geschah. Jedes Mal schwamm er zu dem Spiegel und suchte nach dem Symbol. Zweimal fand er keines vor und brach die Überprüfung vorzeitig ab. Meines Erachtens haben wir den Beweis erbracht, dass Belugas über den gleichen Grad der Selbsterkenntnis verfügen wie Schimpansen. Wale und Menschen könnten einander in einigen Punkten ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«
Eine Studentin hob die Hand. »Sie wollen sagen ....« Sie zögerte. »Die Ergebnisse wollen sagen, dass Delphine und Belugas über Geist und Bewusstsein verfügen, richtig?«
»So ist es.«
»Worin soll das begründet liegen?«
Anawak war verblüfft.
»Haben Sie gerade nicht zugehört? Waren Sie vorhin nicht unten?«
»Doch, schon. Ich habe gesehen, dass ein Tier sein Spiegelbild registriert hat. Es weiß also, das bin ich. Schließen Sie daraus zwangsläufig auf Selbstbewusstsein?«
»Sie haben die Frage soeben selber beantwortet. Es weiß, das bin ich. Es hat ein Ich-Bewusstsein.«
»Das meine ich nicht.« Sie trat einen Schritt nach vorne. Anawak betrachtete sie unter gerunzelten Brauen. Sie hatte rotes Haar, eine kleine spitze Nase und leicht überdimensionierte Schneidezähne. »Ihr Versuch unterstellt Aufmerksamkeitsbewusstsein und Körperidentität. Wie es aussieht, mit Erfolg. Das muss noch lange nicht heißen, dass diese Tiere ein Bewusstsein permanenter Identität aufweisen und daraus irgendwelche Konsequenzen im Umgang mit anderen Lebewesen ableiten.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Doch. Sie haben Gallups These vertreten, dass bestimmte Tiere von sich selbst auf andere schließen können.«
»Affen.«
»Was nebenbei gesagt umstritten ist. Jedenfalls haben Sie keinerlei Einschränkungen gemacht, als Sie später über Tümmler und Belugas sprachen. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?«
»Man muss in diesem Fall nichts einschränken«, erwiderte Anawak verdrossen. »Dass die Tiere sich erkennen, ist bewiesen.«
»Einige Versuche lassen das vermuten, ja.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Sie hob die Schultern und sah ihn aus runden Augen an.
»Na, ist das nicht offensichtlich? Sie können sehen, wie sich ein Beluga benimmt. Aber woher wollen Sie wissen, was er denkt? Ich kenne die Arbeit von Gallup. Er meint, bewiesen zu haben, dass sich ein Tier in ein anderes hineinversetzen kann. Das setzt voraus, dass Tiere ähnlich denken und empfinden wie wir. Was Sie uns heute gezeigt haben, ist der Versuch einer Vermenschlichung.«
Anawak war sprachlos. Ausgerechnet damit wollte sie ihm kommen. Mit seinem eigenen Argument.
»Hatten Sie wirklich diesen Eindruck?«
»Sie haben gesagt, Wale könnten uns möglicherweise ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«
»Warum hören Sie nicht besser hin, Miss ...«
»Delaware. Alicia Delaware.«
»Miss Delaware.« Anawak sammelte sich. »Ich sagte, Wale und Menschen könnten einander ähnlicher sein, als wir dachten.«
»Wo ist der Unterschied?«
»Im Standpunkt. Wir wollen nicht beweisen, dass Wale den Menschen umso ähnlicher werden, je mehr Parallelen wir herausarbeiten. Es geht nicht darum, den Menschen als Idealbild hinzustellen, sondern grundsätzliche Verwandtschaften ...«
»Ich glaube aber nicht, dass das Selbstbewusstsein eines Tiers mit dem des Menschen vergleichbar ist. Die Grundvoraussetzungen liegen einfach zu weit auseinander. Es fängt damit an, dass Menschen ein permanentes Ich-Bewusstsein haben, durch das sie ....«
»Falsch«, unterbrach sie Anawak. »Auch Menschen entwickeln ein ständiges Bewusstsein von sich selber nur
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