Der Schwarm
habt die Nordsee zugebaut. Jetzt steht euch das Zeug im Weg herum. Ihr solltet ähnliche Hastigkeiten in der Tiefsee vermeiden.«
»Wenn wir so hastig sind, warum habe ich dir dann die verdammten Würmer geschickt?«
»Du hast ja Recht. Ego te absolvo.«
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Johanson beschloss, das Thema zuwechseln: »Kare Sverdrup ist übrigens ein netter Kerl. – Um auch mal was Positives zu sagen an diesem Abend.«
Lund warf die Stirn in Falten. Dann entspannte sie sich und lachte.
»Findest du?«
»Absolut.« Er breitete die Hände aus. »Ich meine, es ist alles andere als nett, dass er mich vorher nicht gefragt hat, aber ich kann ihn gut verstehen.«
Lund ließ den Wein in ihrem Glas kreisen.
»Das ist alles noch so frisch«, sagte sie leise.
Sie schwiegen eine Weile.
»Sehr verliebt?«, fragte Johanson in die Stille hinein.
»Wer? Er oder ich?«
»Du.«
»Hm.« Sie lächelte. »Ich glaube schon.«
»Du glaubst?«
»Ich bin Forscherin. Ich muss es eben erst erforschen.«
Es war Mitternacht, als sie schließlich ging. An der Tür warf sie einen Blick zurück auf die leeren Gläser und die Käserinden.
»Vor wenigen Wochen hättest du mich damit gekriegt«, sagte sie. Es klang beinahe bedauernd.
Johanson schob sie sanft hinaus auf den Flur.
»In meinem Alter kommt man auch darüber weg«, sagte er. »Los jetzt! Geh forschen.«
Sie trat nach draußen. Dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Danke für den Wein.«
Das Leben besteht aus Kompromissen zwischen verpassten Gelegenheiten, dachte Johanson, als er die Türe schloss. Dann grinste er und schickte den Gedanken in die Verbannung. Er hatte schon zu viele Gelegenheiten genutzt, um sich beklagen zu können.
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18. März
Vancouver und Vancouver Island, Kanada
Leon Anawak hielt den Atem an.
Komm schon, dachte er. Mach uns die Freude.
Es war das sechste Mal, dass der Beluga auf den Spiegel zuschwamm. Die kleine Gruppe Journalisten und Studenten, die sich im unterirdischen Beobachtungsraum des Vancouver Aquariums zusammengefunden hatte, verharrte in andächtiger Stille. Durch die riesige Scheibe konnten sie das Innere des Pools in seiner Gesamtheit überblicken. Schräg einfallende Sonnenstrahlen tanzten über Wände und Boden. Der Beobachtungsraum selber lag im Dunkeln, sodass die Wasseroberfläche Licht und Schatten in unstetem Spiel auf die Gesichter der Umstehenden zauberte.
Anawak hatte den Beluga mit ungiftiger Tinte markiert. Ein farbiger Kreis zierte jetzt seinen Unterkiefer. Die Stelle war so gewählt, dass der Wal sie nur sehen konnte, wenn er sein Spiegelbild betrachtete. Zwei Spiegel waren in die reflektierenden Glaswände des Pools eingelassen, und zu einem davon schwamm der Beluga jetzt in mäßigem Tempo. Er tat es mit einer Zielstrebigkeit, dass Anawak keinen Zweifel am Ausgang des Experiments hegte. Der weiße Körper drehte sich im Vorüberschwimmen leicht, als wolle der Wal den Betrachtern seine markierte Kinnlade präsentieren. Dann stoppte er vor der Glaswand und ließ sich ein Stück nach unten sinken, bis er auf gleicher Höhe mit dem Spiegel war. Er verharrte, stellte sich auf, bewegte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar versuchte er herauszufinden, aus welchem Blickwinkel er den Kreis am besten sehen konnte. Eine ganze Weile schwebte er auf diese Weise vor dem Spiegel, bewegte die Flossen und drehte den kleinen Kopf mit der charakteristischen Stirnwölbung hin und her.
So wenig menschenähnlich der Beluga war, erinnerte er in diesen Sekunden auf geradezu unheimliche Weise an einen Menschen. Im Gegensatz zu Delphinen waren Belugas verschiedener Gesichtsausdrücke fähig. Augenblicklich schien der Wal sich zuzulächeln. Vieles von dem, was Menschen gerne in Delphine und Belugas hineininterpretierten, resultierte aus diesem vermeintlichen Lächeln. Tatsächlich entsprangendie hoch gezogenen Mundwinkel einer Reihe physiognomischer Eigentümlichkeiten, die der Kommunikation dienten. Belugas konnten die Mundwinkel ebenso herabziehen, ohne Missmut auszudrücken. Sie konnten sogar die Lippen spitzen und aussehen, als ob sie gut gelaunt vor sich hinpfiffen.
Im nächsten Moment verlor der Beluga das Interesse. Vielleicht war er zu dem Schluss gelangt, sein Spiegelbild hinreichend erforscht zu haben, jedenfalls stieg er in einer eleganten Kurve auf und entfernte sich von der Glasscheibe.
»Das war's«, sagte Anawak leise.
»Und was heißt das jetzt?«,
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