Der Schwarm
Kurzweil Kontakt aufgenommen, sodass sie nun über ein künstliches Hirn der letzten Generation verfügte. Sie legte eine Sicherheitskopie an, zerpflückte das Original in seine einzelnen elektronischen Komponenten, kappte die Informationsbrücken und verwandelte es in einen unstrukturierten Schwarm kleinster Einheiten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn man ein menschliches Gehirn ebenfalls auf diese Weise zerlegen würde und was geschehen müsste, damit sich die Zellen wieder zu einem denkenden Ganzen fänden. Nach einer Weile bevölkerten Milliarden elektronischer Neuronen ihren Computer, winzige Speicherplätze ohne Anbindung aneinander.
Dann stellte sie sich vor, es wären keine Speicherplätze, sondern Einzeller.
Milliarden von Einzellern.
Sie durchdachte die nächsten Schritte. Je näher sie an der Realität blieb, desto besser. Nach einigem Überlegen programmierte sie einen dreidimensionalen Raum und versah ihn mit den physikalischen Eigenschaften von Wasser. Wie sahen Einzeller aus? Sie hatten alle möglichen Formen, stäbchenartig, dreieckig, sternförmig gezackt, mit und ohne Geißeln, aber am besten war wohl, sich vorerst für das Einfachste zu entscheiden. Rund war gut. Also rund. Jetzt hatten sie eine Form. Solange die im Labor zu keinen anderen Erkenntnissen gelangten, blieben sie erst mal rund.
Nach und nach verwandelte sich der Computer in einen Ozean. Weavers virtuelle Einzeller bewohnten eine Welt, durch die sie trudeln konnten. Vielleicht sollte sie darangehen, Strömungen einzuprogrammieren, bis der virtuelle Raum in allen Einzelheiten der Tiefsee entsprach. Aber das hatte Zeit. Vorrangig musste sie die Kernfragen beantworten.
Weaver starrte auf den Bildschirm.
So viele Einheiten. Wie konnte daraus ein denkendes Wesenentstehen? Die Größe spielte keine Rolle. Für wasserlebende Wesen galt die Faustregel von der maximalen Körpergröße nicht, weil dort andere Gewichtsverhältnisse herrschten. Ein intelligentes Wasserwesen konnte ungleich größer werden als jeder landlebende Organismus. In den SETI-Szenarien kamen Wasserzivilisationen kaum vor, weil sie mit Radiowellen nicht zu erreichen waren und wahrscheinlich kein Interesse am Weltraum und anderen Planeten entwickeln würden – oder sollten sie den Weltraum in fliegenden Aquarien durchqueren? Doch jetzt war es genau das Szenario, das sie brauchten.
Als Anawak eine halbe Stunde später das JIC betrat, fand er sie immer noch starrend, die Stirn voller Falten. Sie freute sich, ihn zu sehen. Nach seiner Rückkehr aus Nunavut hatten sie viel miteinander gesprochen, über seine und ihre Vergangenheit. Anawak wirkte selbstbewusst und voller Zuversicht. Der traurige Indianer von der Hotelbar des Chateaus war irgendwo in der Arktis verloren gegangen.
»Wie weit bist du?«, fragte er.
»Knoten im Hirn.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wo liegt das Problem?«
Sie erzählte ihm, was sie getan hatte. Anawak hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Dann sagte er: »Klar, dass du nicht weiterkommst. Du bist hervorragend in Computersimulationen, aber dir fehlen ein paar Grundkenntnisse über Biologie. Was ein Hirn zur denkenden Einheit macht, ist sein Aufbau. Die Neuronen unseres Gehirns sind weitgehend gleichartig, es ist die Art und Weise der Verknüpfung, die sie zum Denken bringt. Es ist wie ... Hm. – Pass auf! Stell dir einen Stadtplan vor.«
»Okay. London.«
»Und nun, dass alle Häuser und Straßen plötzlich den Zusammenhalt verlieren und wild durcheinander trudeln. Ein Tohuwabohu. Jetzt setzt du sie wieder zusammen. Dafür gibt es unendlich viele Varianten, aber nur aus einer wird London.«
»Schön. Woher weiß aber jedes Haus, wo es hingehört?« Weaver seufzte. »Nein, lass uns anders anfangen. Ganz gleich, wie die Zellen im Hirn miteinander verknüpft sind – warum ergeben sie zusammengenommen etwas, das mehr kann als die Summe seiner Teile?«
Anawak rieb sich das Kinn.
»Wie soll ich dir das erklären? Okay, geh zurück in unsere angenommene Stadt. Da wird ein Hochhaus gebaut von ... sagen wir mal, tausend Arbeitern. Sie sind alle gleich, meinetwegen geklont.«
»Oh Gott. Das ist nicht London.«
»Jeder von denen hat eine spezielle Aufgabe, bestimmte Handgriffe, die er verrichten muss. Aber keiner kennt den ganzen Plan. Trotzdem bauen sie zusammen das Haus. Wenn du welche austauschen würdest, gäbe es Pannen. Zehn Arbeiter, die eine Kette bilden, um einander Steine zuzuwerfen,
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