Das Buch der Vampire 02 - Schwärzeste Nacht
Prolog
Eine Witwe trauert
E inen Monat, nachdem sie ihren Ehemann verloren hatte, streifte Victoria ziellos durch die Straßen Londons.
Im dunkelsten Teil der Nacht, während die Stadt tief und fest schlief und sich beinahe alle Angehörigen der Oberschicht für die Jagdsaison aufs Land zurückgezogen hatten, strich Victoria Gardella Grantworth de Lacy, die Marquise von Rockley, allein durch das als Seven Dials bekannte Armenviertel.
Trägheit durchdrang ihre Knochen. Ihre innere Taubheit und Abgestumpftheit, zu der sich tiefer, quälender Seelenschmerz und Zorn gesellten, ließen sie die Glieder wie die eines Soldaten bewegen, immer einen Fuß vor den anderen. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet; allerdings nicht nur, weil sie in Trauer war, sondern auch, um mit den Schatten zu verschmelzen, hinein- und hinauszuhuschen, gesehen zu werden, wenn sie es wünschte, und eins mit der Dunkelheit zu werden, wenn nicht. Sie trug Männerkleidung, weil sie ihr mehr Bewegungsfreiheit gab und weil sie nach ihrem Ehemann duftete. Aber sie trug sie auch als stillen Protest gegen eine Gesellschaft, die von ihr verlangte, dass sie in ihrem dunkel verhangenen Haus saß und zwölf Monate lang gar nichts tat. Ihr Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln, als sie daran dachte, was die feinen Damen wohl sagen würden, wenn sie sie jetzt sähen.
Auch der Biberhut, der so hoch war, dass sie ihren dicken Zopf darunter verstecken konnte, hatte Phillip gehört. Sie hatte seine mit Rosmarin parfümierte Pomade gerochen, als sie ihn aufgesetzt hatte. Nun verlor sich dieser tröstliche, vertraute, schmerzvolle Duft in dem Gestank von Pferdeäpfeln, menschlichen Ausscheidungen und anderem Unrat, der die Straßen eines der schlimmsten Viertel Londons verpestete.
Es waren enge, bedrückende Straßen, die Gebäude kauerten mit kaum mannsbreitem Abstand nebeneinander. Fensterscheiben gab es so gut wie keine, und an jedem zweiten Haus waren die Läden oder die Türen oder beides aus den Angeln gerissen. Kutschen und selbst Droschken waren eine Seltenheit, besonders in den frühen Morgenstunden, wenn noch immer Dunkelheit herrschte und Strolche und Ganoven auf der Suche nach wehrlosen Opfern die Gegend unsicher machten.
Victoria wusste, dass sie heute auf keine Vampire treffen würde, die sie jagen konnte. Sie waren alle vor einem Monat aus der Stadt geflohen, zusammen mit ihrer Königin. Lilith.
Nein, Victoria rechnete nicht damit, in dieser Nacht einen Untoten zu pfählen, aber sie sehnte sich trotzdem danach.
Es war an der Zeit, wieder zu spüren, wie das Blut in ihrem Körper pulsierte, ihr Blut, das sich anfühlte, als würde es nur noch im Schneckentempo fließen und einem schaumbedeckten Tümpel gleich vor sich hin brodeln. Sie musste sich bewegen, etwas tun, wieder fühlen . Sie brauchte Rache.
Sie brauchte Absolution.
Victoria bog um die Ecke eines alten Backsteinhauses, dann versteckte sie sich sofort in seinem Schatten, als sie auf der anderen Seite dessen, was in diesem Teil Londons als Straße galt, zwei Gestalten entdeckte.
Die eine war ein großer, korpulenter Mann. Die andere eine schlanke junge Frau; eigentlich mehr ein Mädchen, denn es reichte dem Mann kaum bis zu den Achseln. Der Vollmond tüpfelte Licht auf die Straße, sodass die beiden recht gut zu sehen waren.Victoria erkannte, dass das Mädchen verängstigt war, es flehte und wehrte sich... während der Mann, der sich seine Größe und Kraft zunutze machte, sie grob gegen die Mauer drängte. Er hielt sie am Hals fest, betatschte ihre Brüste und riss ihr das Mieder vom Körper. Mit ihren kleinen Händen zog und kratzte sie an seinen haarigen Armen, wobei sie gleichzeitig versuchte, sich zu bedecken, seine eine Hand von ihrem Hals zu lösen und die andere abzuwehren.
Sich nach allen Seiten umblickend, huschte Victoria aus den Schatten. Niemand sonst war in der Nähe; ob das Mädchen nun von dem Mann hergebracht worden war oder ob es sich einfach verlaufen hatte, wusste sie nicht, aber es schien außer ihr niemanden zu geben, der ihm helfen konnte. Victoria riss sich Phillips Hut vom Kopf, sodass ihr der lange Zopf über den Rücken fiel. Er sollte wissen, dass es eine Frau war, die ihn in die Knie zwang.
Sie kümmerte sich weder um den Pflock in ihrer Manteltasche noch um das Messer, das sie an ihrem Oberschenkel befestigt hatte, sondern schlich sich lautlos wie eine Katze an den Mann heran und versetzte ihm einen kräftigen Tritt ins Kreuz.
Mit
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