Der schwarze Schwan von Scheckenstein
Stephan spürte Ottokars lauernden Blick.
Was jetzt? dachte er. Das ist wirklich eine Notlage!
Ehrlichkeit untereinander war auf der Burg oberstes Gebot. Ein Verdacht von diesem Kaliber würde die Gemeinschaft gefährden – dessen war sich Stephan bewußt. Er mußte die Wahrheit sagen, jetzt. Sofort. Aber Beatrix durfte nicht hineingezogen werden.
„Du sollst nicht verdächtigen!“ erinnerte er Dampfwalze an die alte Ritterregel.
„Wollt ich auch grad sagen!“ pflichtete Mücke ihm bei.
„Verräter - das ist eine schwere Anschuldigung. Da brauchst du Beweise. Vielleicht war der schwarze Schwan ein Typ vom Campingplatz?“
Bei einigen schlug die Spannung in Gelächter um. Doch es verebbte wieder.
„Nein“, sagte Stephan mit fester Stimme. „Der schwarze Schwan war ich!“
Die Ritterschaft stand wie im Wachsfigurenkabinett.
Ausnahmsweise fand Dampfwalze als erster die Sprache wieder: „Hab ich mir’s doch gedacht!“ tönte er siegesgewiß. „Stephan tuschelt drüben mit den Hühnern! Was wolltest du denn von ihnen?“
Stephan wartete einen Augenblick, ehe er ruhig und klar antwortete: „Hör zu! Jeder von uns kann einen Streich machen, mit wem und gegen wen er will, ohne ihn vorher bei dir oder sonstwem anzumelden. Das gilt für die Minis wie für mich. Wenn wir einander dabei in die Quere kommen, ist das unser Problem. Ist das klar?“
Ritter nickten, froh, daß sich die schwere Beschuldigung so rasch aufklärte. Nur der kleine Egon ließ aufgeregt die Augen kullern. „Wieso wußten die dann, daß wir kommen?“
„Da gibt es zwei Möglichkeiten“, antwortete Stephan ruhig. „Entweder ihr wart zu laut oder nicht listig genug.“
„Könnte beides zutreffen“, mutmaßte Hans-Jürgen und hatte die Lacher auf seiner Seite.
„Wir müssen!“ Dieter zeigte auf seine Uhr. „Der Unterricht hat eigentlich schon angefangen.“
Auf dem Weg den Hang hinauf kam Ottokar an Stephans Seite. „Na endlich!“ sagte er mit einem Lächeln. „Ausgestanden ist die Sache aber noch nicht.“ Erleichtert nickte sein Freund. Die erste Hürde war genommen, unter Einhaltung der Ritterregeln. Alles Weitere würde sich finden.
Während des Unterrichts arbeitete das nächtliche Geschehen in den Köpfen der Ritter weiter. In den Pausen zwischen den Stunden tauschten sie ihre Eindrücke aus. Auf diese Weise hatte sich bis zum Mittagessen so etwas wie eine repräsentative Meinung gebildet. Sie gipfelte in drei Fragen:
Weshalb rudert Stephan nur zum Tuscheln hinüber?
Handelt es sich um eine Verschwörung gegen Schreckenstein?
Mit wem hat er getuschelt?
Der neugierige Wolf konnte sich nicht länger bremsen. Mit vollem Mund quatschte er los: „Mit wem hast du dich denn getroffen, so heimlich?“
Das war Privatsache. Ruhig sah Stephan ihn an. „Eigentlich sollte es eine Überraschung werden. Ich hab mit Fräulein Dr. Horn gegrübelt, was wir dir zum Geburtstag schenken.“
Der Heiterkeitserfolg seiner Worte konnte ihn nicht täuschen. Auf die Dauer würden sich die Ritter mit solchen Veralberungen nicht zufriedengeben.
Während der Schweigezeit gegen Ende des Essens ging Schulkapitän Ottokar wie jeden Tag ans Schwarze Brett. Er läutete mit der Kuhglocke und machte seine Ansage: „Der Sport fällt heute aus“, verkündete er. „Gleich nach Tisch ist Klamotteneinsammeln und Ordnungmachen.“ Er schaute auf seinen Zettel und fuhr fort: „Egon hat seine Uhr verloren. Beim Rudern ist ihm das Armband gerissen. Er glaubt ungefähr zu wissen, wo sie liegt, und sucht Taucher, die ihm behilflich sind. Als Finderlohn gibt’s Lakritze oder Marzipan.“
Ein vergnügtes Raunen ging durch den Eßsaal. Der Rex läutete mit dem silbernen Glöckchen und stand auf. Die Mahlzeit war beendet.
„Endlich!“ rief Klaus und zog seine Pyjamajacke aus. „Ich kann keinen Schlafanzug mehr sehen.“
Auf dem Korridor fing der Rex Musterschüler Strehlau ab und nahm ihn beiseite. Über die geplante Bürgerversammlung unterrichtet, hatte Direktor Meyer beim Burgherrn vorgefühlt. „Graf Schreckenstein findet die Idee ausgezeichnet! Er erwartet dich um drei Uhr in seiner Bibliothek.“
Bald ging es hoch her auf der Burg. Unter großem Stimmaufwand wurden die Klamottenseilbahnen zwischen den Fenstern des Süd- und Nordflügels hin und her bewegt.
„Halt! Nicht ziehen! Meine Hose…“ – „Flasche, kannst du nicht warten mit deinem dämlichen Taschentuch?“ — „Oh, du lila Lola, wo ist mein anderer Strumpf?“ –
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