Der Schwur des Maori-Mädchens
meinem Haus aufzunehmen. Ich bin ein elender Feigling geblieben und flüchte nun zurück nach Sydney. Wir fahren morgen. Dir wünsche ich alles Gute für ein Leben mit Frederik. Dein Vater
Vivian ließ den Brief sinken und kämpfte gegen die Tränen an. Es war eine Mischung aus Rührung und Wut, weil er wieder davonlief. Erschrocken drehte sie sich um, als sie Schritte hörte. Es war Frederik.
»Hast du ihn gelesen?«, fragte er.
»Ja, er möchte, dass ich ihm verzeihe, aber ich kann nicht. Wenn er persönlich auf den Berg gekommen wäre und mir all das gesagt hätte, ich wäre ihm wahrscheinlich um den Hals gefallen, aber er kann mir einfach nicht in die Augen sehen ...« Vivian schluchzte laut auf.
»Ich verstehe dich sehr gut, aber er ist ein bedauernswerter Mann, der nicht aus seiner Haut kann. Er ist ein Mensch, der ein verdammt unglückliches Leben führt. Meinst du, ich habe nicht gemerkt, dass er meine Mutter nie wirklich geliebt hat? Der Einzige, dem er überhaupt Gefühle entgegenbringen konnte, war ich ... Und nach allem, was Matui eben erzählt hat, will er partout nicht wahrhaben, dass ein Teil von ihm ein Maori ist. Aber wenn er dich ansieht, dann lässt sich das nicht verdrängen.«
»Aber es ist doch entsetzlich, dass er diese Abneigung gegen die Maori, die ihm sein Vater und dessen Eltern eingetrichtert haben, nicht überwinden kann.«
»Soll ich dich nach Hause bringen, mein Liebling?«, fragte Fred rührend besorgt.
»Ja, ich glaube, das wird das Beste sein. Ich möchte mich hinlegen und morgen aufwachen und nicht mehr daran denken, was für einen Vater ich habe.«
Fred legte den Arm um ihre Schultern, und sie gingen eng umschlungen zu Matuis Haus. Matui und der Anwalt saßen immer noch auf der Veranda, sprachen reichlich dem Whisky zu und plauderten angeregt miteinander. Es war dem alten Mann deutlich anzumerken, wie sehr er sich über diesen überraschenden Besuch freute. Wahrscheinlich reden sie über Lily, dachte Vivian, nachdem sie sich mit einem leidenschaftlichen Kuss von Fred verabschiedet hatte. Am liebsten hätte sie sich gar nicht mehr von ihm getrennt, aber Matui hätte sicherlich nicht zugelassen, dass sie ihre Matte teilten. Also übernachtete er im Hotel. Am Sonntag nach der Feier in der Kirche wollten sie nach Auckland reisen, um Vivians restliche Sachen zu holen und von dort aus weiter nach Dunedin fahren.
Vivian hatte Matui schon mehrfach gefragt, ob er sie begleiten werde. Bislang war er ihr eine Antwort schuldig geblieben. Möglichst unauffällig versuchte sie sich an den beiden Männern vorbeizudrücken, aber das gelang ihr nicht.
»Willst du dich nicht zu uns setzen?«, fragte Matui. Er war immer noch munter. Ganz im Gegensatz zu den vorhergegangenen Abenden zeigte er keine Spur von Müdigkeit.
»Nein, ich möchte lieber allein sein«, entgegnete sie und fügte hastig hinzu: »Mein Vater hat mir geschrieben. Es tut ihm alles leid, und er fährt morgen nach Sydney.«
»Sei nicht traurig, tamahine, eines Tages wird er zu dir kommen und dich persönlich um Verzeihung bitten. Das spüre ich genau.«
Vivian hob die Schultern und verschwand im Haus, Sie wollte ihm nicht widersprechen, aber sie glaubte nicht daran. Ja, sie wusste nicht einmal, ob sie das überhaupt wollte.
Sie lag noch lange wach und hörte immer wieder das Lachen der beiden Männer dort draußen. Am Morgen aber wachte sie mit einem rundherum zufriedenen Gefühl auf und versuchte sich an den letzten Traum zu erinnern. Es wollte ihr allerdings beim besten Willen nicht gelingen. Ihr war so, als habe er etwas mit ihrem Vater zu tun gehabt.
Die beiden Männer schliefen noch, als sie hinaus auf die Veranda trat. Sie streckte sich wohlig, gerade als ein kleiner Maori-Junge auf das Haus zugerannt kam.
»Sind Sie Miss Vivian?«, fragte er außer Atem.
Vivian nickte.
»Dann soll ich Ihnen von Mister Frederik bestellen, dass er seine Pläne geändert hat. Er ist in aller Frühe nach Auckland gereist und kommt am Sonntag direkt zur Kirche.«
»Danke für deine Mühe.« Vivian versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Keine Ursache, der Mister hat mich gut bezahlt.«
Vivian rang sich zu einem Lächeln durch. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie war ein wenig verschnupft darüber, dass Frederik fort war. Wie sehr hätte ich ihn gerade jetzt gebraucht, dachte sie traurig und redete sich gut zu: Das ist egoistisch von dir,
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