Der Seele weißes Blut
Waldstück in grelles Kunstlicht.
Einer der weiß Gewandeten löste sich aus der Menge.
»Morgen, Louis. Schöne Scheiße.«
Sie nickte. »Kann ich durch, Spunte?«
Spunte hieß mit vollem Namen Gerald Spuntenmayer und war Chef der Spurensicherung. Er allein bestimmte, wer sich wo an einem Tatort aufhalten durfte.
»Hier vorne ist der Pfad markiert«, antwortete er und deutete vor sich auf den Boden. »Aber wir sind sowieso gleich durch. Hansi macht gerade noch die letzten Bilder.«
Lydia stieg über die Absperrung und folgte Spunte in die Mitte einer kleinen Lichtung, wo eine Frau mit Pferdeschwanz über einem dunklen Bündel kauerte.
»Was haben wir denn?«, fragte Lydia.
Die Rechtsmedizinerin blickte zu ihr hoch. Sie war nur wenige Jahre älter als Lydia, vielleicht Anfang vierzig, hatte große ausdrucksvolle Augen und ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Lydia wusste, dass sie unter den Kollegen einen ähnlichen Ruf genoss wie sie selbst. Spröde, aber kompetent. Eigentlich hätte sie so etwas wie Solidarität ihr gegenüber empfinden müssen, immerhin waren sie Leidensgenossinnen in dieser brutalen Männerwelt. Doch das Gegenteil war der Fall. Lydia konnte Maren Lahnstein nicht ausstehen. Und sie wusste nicht einmal, warum.
»Gute Frage«, antwortete die Ärztin. Sie deutete auf das Bündel zu ihren Füßen. Jetzt erkannte Lydia, dass es Haare waren, an denen eine blutige Masse haftete. Das Pochen in ihren Schläfen verstärkte sich, sie kniff die Augen zu, um den Schmerz einzudämmen.
Maren Lahnstein sprach inzwischen weiter. »Ein vollkommen zertrümmerter Schädel, ein Ohrring, langes dunkles Haar, vermutlich eine Frau. Der Rest des Körpers ist in den Waldboden eingegraben, deshalb kann ich noch nicht viel zur Todesursache sagen. Die Verletzungen am Kopf hätten aber in jedem Fall ausgereicht, um sie zehnmal zu töten.«
»Irgendeine Vorstellung, wie ihr die Verletzungen beigebracht wurden?« Lydia bückte sich, um sich den zertrümmerten Schädel näher anzusehen. Sie erkannte die ovale Gesichtsform, ein zerfetztes Ohr mit einem kleinen Perlenohrring. Ein Auge war blutunterlaufen, das andere fehlte.
»Ich halte es für möglich, dass sie gesteinigt wurde«, sagte Maren Lahnstein zögernd. »Aber das ist zunächst einmal eine vorsichtige Hypothese. Ihre Kollegen haben jedenfalls haufenweise blutverschmierte Steine rings um den Schädel sichergestellt.«
»Was für ein Mist.« Lydia richtete sich wieder auf. Ihrem Magen ging es erstaunlich gut angesichts des grausigen Anblicks, doch ihr Schädel fühlte sich an, als hätte man ihr Ähnliches angetan wie dem Opfer.
Hinter ihr räusperte sich Weynrath. »Sie wissen, was ich denke?«
Lydia drehte sich um. »Wenn ich das wüsste, würde ich nicht hier stehen.«
»Haha. Das ist weder der Ort noch der Zeitpunkt für Scherze. Frau. Jung. Dunkelhaarig. Todesursache Steinigung. Dämmert es jetzt?«
»Sie meinen, das war ein Ehrenmord?«
»Was sonst? Islamisten. Terroristen. Dieses durchgeknallte Pack. Bomben werfen. Hände abhacken. Steinigen. Die stehen doch auf so was.«
»Ich glaube, in der Bibel ist auch von Steinigungen die Rede.«
»Sparen Sie sich ihre religionsphilosophischen Betrachtungen für nach dem Dienst auf, Louis. Das hier ist ein beschissener Ehrenmord. Darauf verwette ich meinen Arsch. Sie müssen nur die Tote identifizieren und sich ihre Brüder vorknöpfen.«
»Am besten den jüngsten, der noch nicht strafmündig ist. Meinen Sie das?«
»Ich kann nichts dafür, dass diese Kameltreiber so fanatisch drauf sind.«
»Kameltreiber?«
»Verdammt, Louis.« Er trat näher und fixierte sie von unten. Lydia konnte riechen, dass er mit einem starken Mundwasser gegurgelt hatte. Vielleicht hatte er ähnliche Probleme wie sie. »Ich möchte, dass Sie diesen Fall ganz schnell wasserdicht machen. Bevor er großes Aufsehen erregt. Verstanden?«
Er wandte sich ab und stiefelte durch den Wald davon, bevor sie etwas erwidern konnte. Sie wollte ihm hinterherlaufen, aber Maren Lahnstein hielt sie zurück.
»Frau Louis? Was ist mit der Leiche?«
Irritiert drehte sie sich um. Dann warf sie einen kurzen Blick zu Spunte, der dem Schlagabtausch zwischen ihr und Weynrath schweigend gelauscht hatte. Er nickte stumm.
»Okay.« Sie winkte ein paar Kollegen, die, mit Klappspaten bewaffnet, hinter der Absperrung warteten. »Ausgraben!«
Sie blieb nicht, um zuzusehen, sondern folgte ihrem Chef, der irgendwo zwischen den Einsatzwagen
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