Wer liest, kommt weiter
Drei Erlebnisse und vier Fragen
Man kann das Zugfahren mit dem Leben und dem Lesen vergleichen. Wir kennen die Zu- kunft nicht, die auf uns zu kommt . Was auf uns »zu kom men wird« heißt lateinisch »ad ven tura«, englisch ad- ven ture, französich a- ven ture, deutsch A ben teuer. Die Zukunft ist immer ein Abenteuer, das Leben ein großes, das Zugfahren ein kleines: Ich sitze im Zug und schaue zu den Bergen im Süden. »Hallo, du, ich komm etwas später!« ruft plötzlich jemand hinter mir. »Wir sind erst bei Memmingen!« Dieses Telefonat wird irgendwann aufhören, doch ich ergreife gern die Gelegenheit und gehe in den Speisewagen. Auf dem Weg dorthin sehe ich Mitreisende, die sich unterhalten, Zeitung lesen oder an ihren Laptops arbeiten, und viele Kinder und Jugendliche, die mit ihren Handys beschäftigt sind. Der Junge, der dort am Fenster sitzt und sich dem Abenteuer des Lesens widmet, ist eine Ausnahme. Warum?
Im November 2007, vor unserem letzten Umzug, wählte ich unter mehr als 12 000 Büchern genau 300 aus, um sie in einem Gymnasium zu verschenken, in dem ich vertretungsweise 90 Schülerinnen und Schüler in Deutsch unterrichten sollte. Aber nur 10 Schüler hatten Interesse – an insgesamt 18 Büchern.
Als wir noch in Weilheim in Oberbayern wohnten, kamen manchmal Schüler zu uns, sahen die vielen Bücher in der großen und hellen Diele, gingen mit glänzenden Augen zu einem der Regale und fragten: »Darf ich die Bücher einmal anschauen?« In letzter Zeit kamen zweimal junge Leute zu Besuch, erblickten die Bücher und fragten: »Wie stauben Sie die ab?«
Was ist da in wenigen Jahren geschehen? Ist das Zeitalter des Buchdrucks, dessen Ende der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan 1962 vorhergesagt hat (The Gutenberg Galaxy / Das Ende des Buchzeitalters), wirklich vorbei? Sind die Analysen von Neil Postman (Wir amüsieren uns zu Tode, 1985), Norbert Bolz (Am Ende der Gutenberg-Galaxis, 1993) und Sven Birkerts (Die Gutenberg-Elegien, 1994) also berechtigt?
Auch ich habe einmal, 1989, einen Aufsatz mit 25 Thesen zur Zukunft des Lesens veröffentlicht. Erst viel später merkte ich, was diesem Aufsatz wie fast allen Büchern zum Thema Lesen fehlte: eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum oder wozu man überhaupt lesen soll. Wenn es darauf keine andere Antwort gäbe als »Lesen bringt keinen Nutzen« – so Charles Dantzig im letzten Kapitel seines Buches Wozu lesen? (2011) –, dann hätte das Lesen keine Chance mehr.
Ich wiederhole deshalb die Frage und füge drei weitere hinzu. Um folgende vier Fragen geht es in diesem Buch:
Wozu lesen? (Kapitel 1 - 23)
Warum wird heute weniger gelesen? (24 - 30)
Wo, wann und wie können wir lesen? (31 - 34)
Was können wir lesen? (35 - 36)
Aber es gibt auch andere und positive Erlebnisse. Am 10. Oktober kam ich auf der Fahrt zur Frankfurter Buchmesse mit einem Mitreisenden ins Gespräch, einem Handwerksmeister aus dem Schwarzwald, der nach der Hauptschule eine Lehre gemacht hatte. Seine Kinder besuchen mit Erfolg das Gymnasium, und alle drei, auch der Junge, lesen sehr gern.
Zwei Wochen später besuchte uns ein befreundetes Ehepaar, ebenfalls mit drei Kindern, neun, sieben und fünf Jahre alt. Alle drei, auch der Bub, wollen jeden Morgen nach dem Aufwachen nur eines: Lesen! Und gestern telefonierte ich mit einer Freundin in Berlin: In der Klasse ihrer 14jährigen Tochter gibt es sieben Mädchen, die ganz bewußt Leserinnen sind.
Dieses Buch soll dazu beitragen, Kinder und Jugendliche für das Lesen zu gewinnen, zu Hause und am Zugfenster, indem es ihnen und allen, die gern lesen, einige überzeugende Argumente für das Lesen vermittelt.
Da das Lesen in der Schule gelernt wird und ich selbst Deutschlehrer war, erlaube ich mir, mit einer Deutschstunde zu beginnen, in der meine Schüler und ich eine erste Antwort auf die erste Frage gefunden haben: wozu wir überhaupt lesen sollen.
Die 1. Frage: Wozu lesen?
Wer liest, übt seine geistigen Fähigkeiten
1. Wer liest, denkt und lernt denken
Die erste Stunde in einer neuen Klasse ist für den Lehrer immer eine Herausforderung, auch im Fach Deutsch. Denn bekanntlich nehmen die meisten Schüler dieses Fach viel weniger ernst als Mathematik, Physik oder Fremdsprachen, weil man, früher jedenfalls, wegen Deutsch kaum »durchgefallen« ist. Deshalb begann ich die erste Stunde in einer mir unbekannten Oberstufenklasse mit einer Frage, die ich so noch nie gestellt hatte:
»Was lernt und übt man
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