Der Serienmörder von Paris (German Edition)
zu kommen schien. Einer der beiden Kohleöfen heizte auf vollen Touren. Der junge Roger Bérody öffnete die schmiedeeiserne Tür – woraufhin die verkohlten Überreste einer menschlichen Hand herausfielen.
Neben der Treppe befand sich ein Müllhaufen, der sich bei näherer Betrachtung als eine Ansammlung von Skelettteilen entpuppte: ein Schädel, ein Brustkorb und weitere klar identifizierbare Knochen. Verwesende Arme und Beine lagen zerstreut auf dem Boden neben einem in der Mitte geöffneten Torso und zwei weiteren Schädeln. Der beißende Geruch der Fäulnis und Verwesung raubte den Feuerwehrleuten den Atem. Entsetzt und starr vor Angst befahl der Löschzugführer seinen Leuten, sich so schnell wie möglich aus dem Keller zu entfernen. Als die beiden wieder das Tageslicht erblickten, lehnte sich der Jüngere über das eiserne Treppengeländer am Eingang und übergab sich.
„Meine Herren, bitte schauen Sie sich das mal an“, meinte Boudringhin kurze Zeit später zu den beiden Polizeibeamten vor Ort, nachdem er das Grundstück durch das hölzerne Kutschentor verlassen hatte. „Ich glaube, das ist ein Fall wie für Sie gemacht.“
Teyssier war in keiner Weise auf das ihn erwartende Horrorszenario vorbereitet. Panisch rannte er zum Gemischtwarenhändler Garanne und rief in der Hauptwache an.
Zwischenzeitlich hatte sich außerhalb des Gebäudes eine Menschentraube gebildet, angelockt vom Rauch, der nervösen Geschäftigkeit und dem Feuerwehrauto, das dort stand, ohne dass man einen Brand bekämpfte. Unter den gerade Ankommenden befand sich auch ein dünner dunkelhaariger Mann mittlerer Größe, der sein Fahrrad vor sich her schob. Er war blass, glatt rasiert und trug einen grauen Übermantel sowie einen Filzhut. Der Mann schwitzte stark.
Als er den Menschenauflauf erreichte, stellte er das Fahrrad an der Gebäudemauer ab, ging direkt auf den Löschzugführer zu und gab sich als Bruder des Besitzers zu erkennen. Er verlangte, in das Haus gelassen zu werden, und sprach mit solch einer Überzeugungskraft, dass der Löschzugführer ihn zum Streifenbeamten Fillion durchwinkte. Während sich die beiden Männer unterhielten, kehrte Teyssier zurück.
„Sind Sie gute Franzosen?“, fragte der Mann.
„Was ist denn das für eine Frage, bitte?“
„Dann hören Sie genau zu. Was Sie dort gefunden haben – das sind die Leichen von Deutschen und Kollaborateuren!“ Hinter vorgehaltener Hand erkundigte sich der vermeintliche Bruder, ob die Polizeibehörde schon benachrichtigt worden sei. Teyssier nickte.
„Das ist ein schwerwiegender Fehler“, erregte sich der Mann. „Mein eigenes und auch das Leben einiger Freunde, das wir einer wichtigen Aufgabe verschrieben haben, steht auf dem Spiel.“ Petiots vermeintlicher Bruder erklärte, eine Gruppe der französischen Résistance anzuführen, und händigte den Beamten zum Beweis ein Dokument aus, das aber in der Dunkelheit, die sich mittlerweile über die Stadt gelegt hatte, schwer zu lesen war. Während sich die Polizisten bemühten, den Text zu entziffern, hob er etwas vom Boden auf und steckte es blitzschnell in die Tasche.
Dann erklärte er, ungefähr 300 Geheimakten mit Aufzeichnungen von Mitkämpfern in seinem Haus aufzubewahren. „Ich muss die Dokumente unverzüglich vernichten, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen.“
Teyssier und Fillion begrüßten die Widerstandsbestrebungen der Résistance. Ihnen graute davor, dass diese patriotischen Franzosen den Deutschen in die Hände fallen könnten und daraufhin in Gefängnisse oder Konzentrationslager geworfen würden oder einem anderen schlimmen Schicksal ausgesetzt wären. Deshalb erlaubten sie dem Mann, das Haus kurz zu betreten, und später, sich vom Tatort zu entfernen, obwohl er offensichtlich über Informationen verfügte, die den Ermittlern weitergeholfen hätten. Darüber hinaus entschieden sich die Beamten dafür, ihre Vorgesetzten nicht über das Zwischenspiel in Kenntnis zu setzen. Der Mann stieg dann wieder auf das Fahrrad und entschwand in der dunklen Nacht. Später sah Teyssier ein Foto des Arztes, dem das luxuriöse Gebäude gehörte, das von einigen als Villa bezeichnet wurde. Als er erkannte, dass dieser Mann niemand anderes als Marcel Petiot selbst war, versteinerte sich seine Miene.
Am entgegengesetzten Ende der Stadt, in einem Haus am Boulevard Diderot 48–50, hatte Kommissar Georges-Victor Massu, der Leiter der Mordkommission, gerade das gemeinsame Abendessen mit seiner Frau
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