Der siebte Turm 06 - Der violette Sonnenstein
Moment von ihrer Zählung ab, doch sie waren ohnehin so wenig Überlebende, dass sich das Zählen nicht mehr lohnte. Insgesamt nur vierzehn. Sie selbst, Odris, Saylsen, Jarek, die Crone Malen, fünf Schildjungfrauen und vier Eiscarl-Jäger.
Malen stand allein und vollkommen ruhig da. Ihre Hände hatte sie an die Schläfen gelegt. Milla wusste, dass sie mit den anderen Cronen Kontakt aufnehmen wollte, aber jung und unerfahren wie sie war, hatte Malen erst jetzt festgestellt, dass sie den eigenwilligen Kollektiv-Verstand der Cronen nur erreichen konnte, wenn sie vollkommen ruhig und entspannt war – das absolute Gegenteil einer Kampfsituation.
Da sie über Malen nicht mit den Cronen in Kontakt treten konnte, wusste Milla auch nicht, wo sich die Hauptstreitmacht der Eiscarls gerade befand. Sie könnte noch immer am Berg des Lichtes oder bereits in die Untervolk-Ebenen vorgedrungen sein. Milla wusste ebenso wenig, was der Rest ihrer Vorhut machte, die über die Ebenen der Untervölkler verteilt war. Im Nachhinein betrachtet, war es ein schwerwiegender Fehler gewesen, die Große Treppe zu stürmen. Zumindest war es falsch gewesen weiterzupreschen, nachdem sie den Feind ein erstes Mal zurückgedrängt hatten.
Für diesen Fehler würde Milla möglicherweise mit ihrem Leben bezahlen. Und mit dem Leben aller, die sie anführte.
Malen ließ die Hände sinken und Milla wusste auch ohne zu fragen, dass die Crone keinen Erfolg gehabt hatte. Es war deutlich an ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Körperhaltung abzulesen.
„Neuigkeiten?“
Malen schüttelte den Kopf. In ihren Augenwinkeln lagen Tränen – keine Tränen der Trauer, sondern der äußersten Konzentration.
„Ich kann meine Gedanken nicht zur Ruhe bringen“, sagte Malen. „Das ist die erste Lektion, die die Cronen lernen, aber ich kann es nicht mehr… ich hätte niemals geglaubt, dass das geschehen könnte.“
Sie richtete sich auf und schlug ihre Fäuste zusammen, bevor sie weitersprach.
„Ich habe dich enttäuscht, Kriegsführerin“, sagte sie. „Falls wir diesen Kampf überleben sollten, werde ich darum bitten, auf das Eis gehen zu dürfen.“
Milla zog eine Grimasse. Hatte sie auf die Cronen auch so gewirkt? Wie eine stolze, junge Eiscarl-Frau, die lieber um den Tod auf dem Eis bat, als sich den Problemen zu stellen, die ihr bevorstanden?
„Das wird nicht nötig sein“, sagte Milla scharf. „Du hast weder mich noch sonst jemanden enttäuscht. Cronen ziehen nicht in den Kampf und ich gehe davon aus, dass du sie deshalb nicht erreichst. Ich bin mir sicher, dass du die Cronen wieder hören wirst. Aber wir beide sollten erst einmal Fässer verschieben. Die Erwählten werden bald angreifen.“
Malen schlug noch einmal ihre Fäuste zusammen, aber Milla ließ sich nicht täuschen. Sie kannte diesen Blick. Malen würde darum bitten, auf das Eis gehen zu dürfen. Wie auch immer, dachte Milla, das war ein Problem für später. Es bestand so oder so nur eine sehr geringe Chance, dass sie hier lebend herauskamen. Sie wandte der Crone den Rücken zu und half ein paar Schildjungfrauen, die ein besonders großes und schweres Fass zur schnell wachsenden Festung in der Mitte der Höhle rollten.
KAPITEL DREI
Tal öffnete die Augen. Die Kristallkugel war verschwunden. Er lag irgendwo auf dem Boden und in der Ferne hörte er den Singsang einer Stimme. Tal setzte sich auf und sah, dass er im Oberstufen-Lektorium lag, zwischen zwei Schreibtischen in der letzten Reihe des Auditoriums. Der Saal war bis auf ihn selbst und den Lektor leer. Der stand hinter der Kanzel in der Mitte und redete.
Es war Lektor Roum, Tals Oberlehrer. Ein großer und kräftig gebauter Erwählter, Hellstern der Blauen und so stolz, dass er seinen Bart hatte blau färben und kleine Sonnensteine einweben lassen.
„Dein Vater wird vermisst“, brüllte Lektor Roum plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Tal. „Es wird davon ausgegangen, dass er tot ist!“
Noch als die Stimme des Lektors durch den Saal hallte, brach seine Haut auf wie die einer überreifen Frucht und brachte einen Geistschatten zum Vorschein. Es war ein riesiger Geistschatten, eine formlose Masse aus Dunkelheit, die ohne Unterlass aus dem Körper des Erwählten quoll. Der Schatten war wie eine unaufhaltsame, schwarze Flut, die die Treppen hochschwappte und nach Tal griff.
Tal drehte sich um, um wegzulaufen, machte einen Schritt und rutschte plötzlich von einer der goldenen Stangen, an denen die
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