Der Simulator
den Deutschen gemocht hätte. Er war ein schwieriger Patient gewesen. Verschlossen, in sich zurückgezogen hatte er jahrelang ein unauffälliges Dasein in der Klinik gefristet. Fast schien es, als hätte er wie ein Mönch allem Irdischen abgeschworen. In der Therapie waren sie nicht über ein paar unergiebige Gespräche hinausgekommen. Erst vor kurzem hatte Moulin jede Selbstmordgefährdung ausgeschlossen. Suicidalität besteht nicht , hatte es lapidar in seinem letzten Entwicklungsbericht geheißen. Er nahm noch einmal die Akte zur Hand.
Herr Thomas H., geboren am 06.08.1945 in Frankfurt am Main (Bundesrepublik Deutschland), wohnhaft im Hause, in stationärer Behandlung seit dem 27.12.1989 .
Diagnose: Chronische paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (ICD 295.3).
Die ausführliche Vorgeschichte bitten wir unseren letzten Arztberichten zu entnehmen.
Zur jetzigen Aufnahme: Der Patient bat selbst um Klinikeinweisung, nachdem er sich anlässlich einer akuten Krise subjektiv überlastet fühlte und eine Exacerbation der Psychose befürchtete.
Psychischer Aufnahmebefund: Herr H. war bewusstseinsklar und allseits orientiert. Konzentration und Merkfähigkeit waren herabgesetzt. Der Gedankengang war verlangsamt, jedoch formal geordnet. Inhaltlich klangen paranoide Ideen an (z. B. er habe von höherer Seite den Auftrag erhalten, die Menschheit zu erlösen, oder sei gezwungen worden, jemanden zu töten). Das Antriebsniveau war herabgesetzt, der Patient war psychomotorisch verlangsamt und affektiv starr. Er wirkte deprimiert und ratlos, klagte über vermindertes Selbstwertgefühl, Druckgefühl im Kopf und über Schlaflosigkeit.
Die Medikation war bald reduziert worden, ohne dass es zu einer erneuten psychotischen Entgleisung kam. Herr H. nahm an der hauseigenen Arbeitstherapie teil und beschäftigte sich in seiner Freizeit hauptsächlich mit einem tragbaren Computer, den er in die Einrichtung mitgebracht hatte.
Es folgten die EEG-und Labordaten, die unauffällig waren und im Bereich der Norm lagen. Der Finanzierungsvermerk wies auf eine offenbar entfernte Verwandte, die jeden Monat pünktlich die nicht unerhebliche Summe überwies.
Der Doktor machte sich auf seine letzte Runde durch das Haus. Er war mehr als nachdenklich. Düster grübelnd, hätte er auf einen aufmerksamen Beobachter geradezu verstört gewirkt.
Er machte sich Vorwürfe, suchte nach einem Anhaltspunkt, nach etwas, was ihn hätte gewarnt haben können. Nach Jahren relativer Ruhe, war der Deutsche in den letzten Wochen und Monaten angespannter und erregter gewesen, hatte sogar ein paar Mal um eine Bedarfsmedikation gebeten. Ungewöhnlich für ihn, gestand Moulin sich jetzt ein. Und doch hatte es keine Hinweise auf eine erneute, akute Krise gegeben.
Wie üblich wechselte der Arzt mit jedem Patienten, dem er begegnete, ein paar Worte, hörte sich die Berichte der Pfleger an, ging durch die Küche und stattete den verlassenen Räumen der Beschäftigungstherapie einen kurzen Besuch ab. Heute jedoch war er nicht bei der Sache.
»Wie sagt man auf Französisch domenica ?« Salvatore grinste schief und sperrte seine Augen so weit auf, als würde er gleich die streng geheime Zahlenkombination des großen Kühlschrankes erfahren.
Er fragte ihn jeden Tag nach einem Wort. Obwohl er nie zweimal nach dem gleichen fragte, hatte Moulin Zweifel, ob er sich die Vokabel länger als eine halbe Stunde merken konnte.
Freundlich antwortete er: » Dimanche , Salvatore, dimanche .« Sie standen am Rand der hinteren Terrasse, und der kleine Park mit seinen Wegen und Bänken, den Büschen und Sträuchern, den vereinzelten Bäumen öffnete sich vor ihnen wie ein gut gepflegter Golfplatz.
»Und auf Deutsch?«
»Die Deutschen sagen Sonntag , der Tag der Sonne.« Wieder lächelte Dr. Moulin.
Tatsächlich schien die Sonne noch flach durch das Geäst, und unten auf dem See blitzten die Segel der letzten Boote auf.
»Das ist sehr schön, das ist wirklich sehr schön ...« Salvatore war begeistert. Nickend und murmelnd trottete er ins Haus zurück.
Von weitem schon, aus den Tiefen des Gartens, winkte ihm Herr Geßler zu. Laut rufend, stakste er unsicheren Schrittes auf Moulin zu. Dieser konnte kein Wort verstehen, blieb aber ergeben stehen, bis ihn Geßler mit seiner knochigen Hand am Arm gepackt hatte.
»Herr Doktor, chöid Ir mir erchlääre, worum i Mädikchamänt bruuch? I bi doch gsund, odär?!« nuschelte er kaum verständlich auf Schwyzerdütsch.
Moulin seufzte.
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