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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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des Deutschen zu blicken, ganz so, als könne ein einfaches Handauflegen ihn wieder zum Leben erwecken, und war fast enttäuscht, als sich der Bildschirm nur mit den üblichen Zeichen füllte, langen Ameisenstraßen, die unwillig nach oben krochen, wenn er die Cursortaste drückte.
    In der ersten Zeile stand: Das letzte Experiment - oder wie ich das Universum rettete .
    Dr. Moulin sah noch einmal hinaus. In den Gläsern seiner Brille spiegelten sich die Lichtbänder, die den See wie einen dunklen Stein umfassten. Fixsternen gleich zitterten die Lichtpünktchen der Häuser und Laternen durch die Nacht zu ihm herauf. Unbeweglich und friedlich lag Genf zu seinen Füßen. Dann fing er an zu lesen.
     
    Wer früher stirb, ist länger tot
    Die Nachricht von Altomontes Tod erreichte mich in der Redaktion. Es war der erste Dezember. Das Gipfeltreffen zwischen Bush und Gorbatschow stand unmittelbar bevor, und die Ticker glichen heiß gelaufenen Webstühlen, die die immer gleichen Verlautbarungen zu neuen, erregenderen Mustern zusammenzustellen versuchten. Sie Meldung, die mich telefonisch eingeholt hatte, mochte irgendwo am Ende einer monströsen Warteschlange stecken, eines gewaltigen Informationsstaus, und es konnte Stunden dauern, bis sie sich als kurze Notiz wie ein Maulwurf durch die Anhäufungen überflüssiger Worte hindurch ans Tageslicht gearbeitet haben würde.
    Noch während Liepman ungeschickt versuchte, mich mit dem Unwiderruflichen vertraut zu machen, stellten sich zwei unterschiedliche Empfindungen fast gleichzeitig ein. Da war zunächst ungläubiges Staunen, das Unvermögen, auf Anhieb zu begreifen, jemand wie Altomonte könne sterben, das heißt, sei wie alle Menschen sterblich - die eigene Person vielleicht ausgenommen. Hinzu gesellte sich bald das Gefühl tiefer Bewunderung. Ganz so, als sei das wieder eine seiner grandiosen Ideen, dachte ich: »Schafft es der alte Gauner doch immer aufs Neue, die Welt zu verblüffen!« Es war die gleiche Bewunderung, die ich mehr als zwanzig Jahre lang verspürt, manchmal erfolglos bekämpft, häufiger wie gottgegeben hingenommen hatte.
    Tatsächlich ist diese Bewunderung das erste, was ich überhaupt mit Altomonte verbinde.
    Auf dem Mäuerchen vor der Theoretischen sitzend, pflegte er ganze Nachmittage lang auf den Neckar hinunter zu starren. Manchmal lag er rauchend da und blickte den Schwaden nach, die er durch Mund und Nase aufsteigen ließ, oder dem Lauf der Wolken, die über den Heiligenberg oder den Königstuhl hinweg zogen. Ging einer der anderen Studenten vorüber, bedachte ihn Altomonte mit einer spöttischen Bemerkung. Dann flogen dumme Sprüche hin und her, ohne darüber hinwegzutäuschen, dass er keine Gesellschaft suchte.
    Bei den Kommilitonen galt er als genialisch, verschroben, vielleicht nur verrückt oder größenwahnsinnig, bei den Professoren als faul und aufsässig. Für Altomonte waren die einen wie die anderen zwar ernsthaft bemühte, doch letztlich hoffnungslos zum Scheitern verurteilte Kleingeister, die auch in zweihundert Jahren, zumindest ohne seine Hilfe, nichts von Physik verstanden hätten. Dabei war es keineswegs die Intelligenz, die er ihnen absprach. Nein, über die entsprechende Ausstattung und die rein formalen Fähigkeiten verfügten sie durchaus, bemerkte er mehr als einmal spöttisch, manche sogar im Übermaß. Es war die geistige Beweglichkeit, die ihnen fehlte, der Mut, über den Tellerrand hinauszuschauen, vielleicht nur eine moralische Unabhängigkeit. Das verurteilte sie dazu, wie willenlose Objekte auf den von ihren Lehrern und Eltern vorgegebenen Umlaufbahnen zu verharren. Später sprach er von einem psychologischen Charakterzug, von etwas, das er Feldunabhängigkeit nannte, eine Eigenschaft, mit der er, aus welchen Gründen auch immer, überreich gesegnet zu sein vorgab und die ihm erlaubte, dem wichtigsten Bestimmungsstück des Menschen zu trotzen: dem Herdentrieb.
    »He, Heilant! Wo rennst du hin?«
    Ich glaube, es war das erste Mal, dass er mich so ansprach, dass er mehr sagte als »Na, alles klar?!« oder »Hey, was macht’s Leben?«.
    Misstrauisch zögerte ich, weiterzugehen. »In die Stadt, wieso?«
    »Warte, ich komm mit!« Er war aufgesprungen, hatte die braune Lederjacke über die Schulter geworfen und stürzte die paar Stufen herunter. Dann packte er mich am Arm und zog mich in die andere Richtung. »Komm, wir nehmen den Schlangenweg!« Es waren diese Imperative, die ihm flüssig von den Lippen kamen, denen selten

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