Der Sixtinische Himmel
zurück. Im Zwielicht der Fackeln schien es, als folgten die Arkaden einer endlosen Linie nach Norden. Er erahnte ihr Ende nur, weil er wusste, dass oben, auf der Anhöhe, der Korridor mit dem Belvedere-Palast zusammenstieß. Unter jedem Bogen war eine Wache der päpstlichen Leibgarde postiert. Zu seiner Rechten erstreckte sich der Papstpalast, der den fertigen Cortile nach Süden hin abschließen würde. Unzählige Male hatte Aurelio am Brunnen stehend zu den Gemächern seiner Sehnsucht emporgeblickt, die vergangene Nacht für einige köstliche Stunden seine eigenen gewesen waren. Mit schweißnassen Handflächen schob er sich an der Pfütze vorbei und gerade so weit aus der Nische heraus, dass er einen Blick in den Cortile werfen konnte. Bei dem, was er dort erblickte, weiteten sich seine Augen, seine Finger erstarrten, und sein Herz blieb stehen.
Das »Ding da«, von dem die Wache gesprochen hatte, war ein Berg aus Reisig, aus dem ein Pfahl ragte, an den soeben eine in ein Bußgewand gehüllte Gestalt gebunden wurde. Die Gewissheit, dass es sich dabei nur um Aphrodite handeln konnte, schleuderte Aurelio gegen die Mauer, noch ehe er begriffen hatte, dass es sich bei dem Reisigberg um einen Scheiterhaufen handelte. Ein Mann mit Söldnerstiefeln und einem schwarzen Kapuzenmantel riss ihren Kopf, dem ein Sack übergestülpt worden war, nach hinten, schlang ihr einen Strick um den Hals und band ihn am Pfahl fest. Ihre Arme waren bereits hinter dem Körper gefesselt. Undeutliche Laute waren zu hören, wie von einem Hund, dem man das Maul zuhielt.
Keine fünf Schritte von Aurelio entfernt öffnete sich ein Seiteneingang des Palastes, und ein Mann in einer festlichen Soutane betrat den Hof. Er hielt eine goldene Bibel an die Brust gepresst. Aurelio erkannte ihn sofort: Egidio da Viterbo, die rechte Hand des Papstes in allen Glaubensfragen. Ihm folgten zwei Geistliche, von denen einer Weihrauch schwenkte, während der andere ein goldenes Kreuz trug. Als sie die Mitte des Platzes erreichten, nickte da Viterbo dem Mann hinter dem Pfahl zu. Der zog der gefesselten Gestalt den Sack vom Kopf. Die Wachen wandten die Köpfe ab. Wie immer trug Aphrodite einen Schleier, wenngleich er diesmal schwarz war. Doch auch der schwärzeste Schleier hätte nicht zu verhindern vermocht, dass ihre Energie einer eisigen Böe gleich über den Cortile fegte.
Eilig schlug Egidio da Viterbo die Bibel auf und begann, einen lateinischen Text zu verlesen. Aphrodite wand sich, als werde sie von seinen Worten wie von Messerstichen traktiert. Wie eine Schlange, dachte Aurelio. Wie die Schlange, die sich letzte Nacht um ihn gewunden hatte. Schließlich drehte sie ihren Kopf zu den Gemächern Julius’ empor und begann, Worte zu formen.
»Du bringst nicht einmal den Mut auf, mir persönlich gegenüberzutreten!« Ihre Stimme, schrill und dunkel zugleich, ließ den gesamten Hof erstarren. Egidio, kurzfristig aus der Fassung gebracht, las weiter. Aphrodites nächste Worte waren an ihn gerichtet: »Hau ab, du dreckiger Handlanger! Du hast mehr Sünde auf dich geladen, als ich es jemals vermocht hätte! Deine Seele ist schwärzer als die ewige Finsternis, die dich erwartet, sobald du das Fegefeuer hinter dich gebracht hast!«
Egidio schloss die Bibel, schlug das Kreuz, trat zwei Schritte zurück und nickte erneut dem verhüllten Mann zu. Während Aurelio in fassungslosem Entsetzen mit ansehen musste, wie der Kapuzenträger um den Reisighaufen herumging, um an mehreren Stellen seine Fackel an das Holz zu halten, brach es aus der Kurtisane hervor: »Du glaubst, du kannst mich vernichten?« Ihre Stimme steigerte sich zu einem hysterischen Schreien, das mit scharfen Krallen die Mauern zu Julius’ Gemächern emporkletterte. »Niemals wird dir das gelingen! Niemals! Ich weiß, dass du da oben hinter deinem Vorhang kauerst wie ein verängstigtes Kind. Also spitze deine Ohren!«
Es war, als versuche der Regen das auflodernde Feuer zu löschen. Tausende glitzernder Tropfen prasselten in den Hof und stürzten sich auf die Flammen, wo sie als zischender Dampf aufstoben, noch ehe sie das Holz erreichten. Erster Qualm stieg auf und hüllte Aphrodite ein. »Du kannst mich nicht vernichten!« Ihre Stimme überschlug sich. »Nichts, was du tust, könnte dich je von mir befreien! Ich verfluche dich, hörst du? ICH VERFLUCHE DICH!« Ein Hustenanfall ließ sie nach Luft ringen. Inzwischen hatten die Flammen sie vollständig eingehüllt. Ein irres Lachen entrang sich ihrer
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